Das Hagebutten-Mädchen
schreckhaft aufgeflogenen Vögel und, Gott sei Dank, beinahe im selben Augenblick zogen sich die Mädchenköpfe zurück. Lauft endlich weg, Kinder!
Henner Wortreich schien den Schuss nicht wirklich bemerkt zu haben. Dabei musste sein Ohr nun taub sein, die Kugel war nur ein paar Millimeter neben seiner Schläfe Richtung Himmel verschwunden. Nur kurz sah man so etwas wie Schrecken in seinem Gesicht, dann entspannten sich seine Züge wieder, als wäre nichts geschehen. Er war so weit. Sein Verhalten war nicht mehr abzuschätzen, er war nun über den Hang hinausgetreten und fiel in einen tiefen, schwarzen Abgrund.
»Was ist dann geschehen, Henner? Was ist in der Nacht passiert, als Kai Minnert das Instrument suchte, welches Sie aus der Wohnung geschleppt hatten? Ist er Ihnen gefolgt? Hat er Sie gefunden und zur Rede gestellt? Der Streit, den Sie beide so sorgsam verdrängt hatten, ist er am Freitagabend im Laden in der Wilhelmstraße eskaliert?«
Vielleicht hole ich ihn so zurück, dachte Wencke. Ich muss ihn diese Geschichte erzählen lassen, er muss wieder mit dem Reden beginnen. Vielleicht bremst es seinen Fall, wenn er sich an die Tatsachen erinnert. Vor allem musste es ihr gelingen, dass er aufhörte, sich selbst Vorwürfe zu machen. Er war am Ende, er war sich in diesem Moment vielleicht zum ersten Mal bewusst geworden, dass er aus reiner Geldgier seinen Freund betrogen hatte. In Wahrheit hielt ihm sein schlechtes Gewissen diese Knarre ans Kinn und nicht er selbst.
»Henner, mal ganz ehrlich, ich kann Sie gut verstehen. Ist ja auch nicht einzusehen, warum Kai nicht verstanden hat, worum es Ihnen ging. Warum hat er Ihnen nicht einen Moment richtig zugehört?« Dies war ein Vorgehen aus dem Lehrbuch. Man soll selbstmordgefährdeten Personen den Grund für ihr Handeln ausreden, ganz sachte und ganz vorsichtig soll man ihnen suggerieren, dass die Situation nicht so verfahren war und es falsch wäre, an dieser Stelle aufzugeben. Also musste Wencke ihm klar machen, dass sein betrügerisches Verhalten entschuldigt werden konnte. Dass er nicht allein Schuld war an diesem unglücklichen Verlauf der Ereignisse und auch Minnert seinen Teil dazu beigetragen hatte. »Kai hat Ihnen Unrecht getan, Henner. Für alle war er da, für den Heimatverein und die Antiquitätenhändler, für alle hatte er ein offenes Ohr und jede Menge Zeit. Witze erzählen konnte er, und einen trinken, und richtig viel essen.
Aber für Sie, Henner, für Sie hat er keine Zeit gefunden. Obwohl er doch wissen musste, wie schlecht es Ihnen ging. Das heißt, dass Sie nicht allein an all dem schuld sind!«
»Nein!«
»Warum hat er es nie auf einen Streit ankommen lassen? Warum hat er nie bemerkt, wie unglücklich und unzufrieden Sie mit dem Leben waren? Waren Sie ihm nicht wichtig? Er hat Ihre Misere einfach übersehen und immer nach seinen Regeln gespielt, war es nicht so?«
Wortreich senkte den Kopf. Er blickte zu Boden und Wencke konnte an seinen Fingern erkennen, dass er die Waffe nicht mehr ganz so entschlossen, nicht mehr ganz so verkrampft hielt. War Sie auf dem richtigen Weg?
»Er hätte Ihnen andere Möglichkeiten aufzeigen können, wie Sie Ihr Leben gemeinsam neu gestalten könnten, Wortreich. Stattdessen ging er Ihren Bedürfnissen aus dem Weg. Und das war falsch von ihm! Glauben Sie mir, Ihr geliebter Freund hat Ihnen in dieser Beziehung Unrecht angetan!«
Wortreich blickte auf. Sie konnte seinen Blick nicht deuten. War es Zweifel oder würde er gleich auf sie losgehen, weil sie Kai Minnert schlecht machte?
»So nett er auch sein konnte und sosehr Sie ihn geliebt haben, war Kai Minnert ganz bestimmt kein Heiliger, Henner! Hören Sie auf, sich selbst mit Vorwürfen zu zerfleischen. Sie hatten ein Recht, ein anderes Leben zu fordern, wenn Sie nicht glücklich waren. Und Kai hat Ihnen dieses Recht nicht gewährt. Betrugsversuch und Unterschlagung hin oder her, in diesem Fall hat auch Kai Minnert ganz sicher jede Menge Fehler gemacht.«
»Wie können Sie so etwas sagen?«, fuhr Wortreich sie an und seine Stimme klang wie ein wildes Fauchen.
»Wie können Sie behaupten, dass Kai sich auch nur einen Moment lang die Hände schmutzig gemacht hat? Er war der ehrbarste Mensch, den ich je gekannt habe! Wie können Sie es wagen, jetzt alles zu verdrehen? Ihn schuldig zu sprechen? Wie können Sie es wagen?« Und dann sah Wencke, dass er ganz langsam seine Waffe wendete, Zentimeter für Zentimeter schob sich der Lauf in eine andere Richtung, bis
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