Das Hagebutten-Mädchen
war. Ein Schluck Wasser, dachte sie, doch ihr war noch zu schwindelig, um aufzustehen. Wieder ein Schuss. Kein Zweifel, es war ein Schuss. Vom Deich her. Nicht weit weg.
Durch die Silberpappeln hindurch konnte sie zum Bootshaus schauen. Zwei Männer fuhren mit den Rädern Richtung Osten, als ginge es um Leben oder Tod. Hinten fuhr zweifellos der Zöllner, der vordere, schnellere mochte der Polizist sein. Die Kommissarin war nicht zu sehen.
Astrid lehnte sich auf der Bank zurück. Wen auch immer sie dort verfolgten, hinter ihr waren sie jedenfalls nicht her. Sie saß schlaftrunken im Garten, während nur hundert Meter entfernt geschossen wurde. Und für einen kurzen Moment mochte sie selbst daran glauben, dass sie völlig unschuldig war.
Dass sie nur eine Frau war, die im Garten zu lange in der Märzsonne gesessen hatte. Nur eine Mutter, die sich wünschte, dass ihr Sohn auch einmal hier in diesem Garten sitzen würde, mit eigenen Kindern um sich herum.
Doch so war es nicht. Sie war nicht unschuldig. Freitagabend hatte sie sich schuldig gemacht.
Noch etwas benommen stand sie auf und ging durch den Wintergarten ins Haus. Das Wasser aus dem Hahn in der Küche war angenehm kühl, sie hielt sich das gefüllte Glas auf die brennenden Wangen. Bevor sie eingeschlafen war, hatte sie, wie immer seit Freitag, an Kai gedacht und dass es nicht ihre Absicht gewesen war, ihn zu töten.
Genau genommen hatte sie die Sache von damals doch weit hinter sich gelassen. Gut, es hatte wehgetan, damals, vor fünfzehn Jahren, und die Angst, dass Gerrit etwas mit Henner haben könnte, war genauso unbegründet wie irrational in ihr verankert gewesen, aber Kai Minnert hatte sie verdrängt. Sie hatten sich nur selten unfreiwillig auf der Straße getroffen und ansonsten war die Insel groß genug gewesen, um sich aus dem Wege zu gehen. Und deshalb war Kai Minnert ihr egal gewesen. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu töten. Und wäre er am Freitagabend nicht bei ihr aufgetaucht, dann hätte es sich nicht geändert. Warum war er nur auf die Idee gekommen, auf seiner Suche nach Henner ausgerechnet zu ihr zu kommen? Sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Sie musste an Freitagabend denken. An diesen Augenblick vor zwei Tagen, in dem ihre alten Wunden wieder aufgerissen waren:
Astrid hatte am Freitag eigentlich nur ihre Ruhe haben wollen, bloß deshalb war sie auch nicht zur Feier im Haus des Kurgastes gegangen. Sie wollte stattdessen die Beine hochlegen, auf dem Sessel sitzen und Fernsehen schauen. Eine Romanverfilmung von Rosamunde Pilcher auf dem Zweiten, ein Glas Saft dazu. Und dann hatte er an ihrem Wohnzimmerfenster gestanden und gegen die Scheibe geklopft. Kai Minnert. Nach fünfzehn Jahren Sendepause hatte er am Freitagabend um Viertel vor zehn gegen ihre Scheibe gehauen. Da vorne die Tür schon verschlossen gewesen war, musste er auf der Suche nach ihr ums Haus herumgeschlichen sein. Merkwürdigerweise hatte Astrid sich kein bisschen erschreckt über das Klopfen und die Gestalt in ihrem Garten. Doch als sie ihm die Wintergartentür geöffnet hatte, war sie plötzlich in Sorge. Verschwitzt und gehetzt hatte er ausgesehen, Alkoholgeruch war ihr entgegengeweht. Sie hatte ihn gefragt, was er hier wolle. Warum er nicht auf dem Inselabend sei.
»Ist Henner hier?«
»Machst du Witze?«, hatte sie zurückgefragt.
»Du hast Recht, warum sollte er ausgerechnet zu dir gehen? Aber ich weiß nicht, wo ich ihn noch suchen soll.«
»Habt ihr Streit?«
»Wenn es das nur wäre, Astrid!« Atemlos hatte er im Rahmen der Terrassentür gelehnt und sich mit der Hand über die Stirn gewischt. »Ich wünschte wirklich, es wäre nur ein Streit!«
Sie hatte ihn nicht hereingebeten, sondern sich vor ihn gestellt. Sie war sich zwar ihres schmalen Körpers bewusst gewesen, hatte aber auch gewusst, dass er sich nicht unerlaubt an ihr vorbeidrängen würde. Kai war bei allem, was er ihr angetan hatte, doch irgendwie immer ein anständiger Kerl gewesen. »Kannst du mir bitte sagen, was du hier willst?«
»Hast du eine Ahnung, wo dein Mann steckt?«
Astrids Bauch hatte sich zusammengekrampft. Auch nach fünfzehn Jahren hatte sie diesen Ausdruck in Kais Gesicht noch zu deuten gewusst, wenn er scheinbar beiläufig nach etwas Wesentlichem fragte. »Ist er nicht bei euch?«
»Du weißt es also!«
Astrid hatte geschwiegen. In diesem Moment hatte sie zum ersten Mal wirklich geglaubt, an ihrem Verdacht gegen Gerrit und Henner könnte etwas
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