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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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hier verschwinden sollten. Sie alle waren nur knapp von einem tödlichen Schuss entfernt. Doch sie konnte ihnen kein Zeichen geben, noch nicht einmal länger hinschauen. Henner hätte es bemerkt, und es war nicht abzusehen, wie er in diesem Augenblick reagieren würde. Er war nicht bei sich. Er sah zwar aus, als wüsste er ganz genau, was er nun tun wollte, doch er stand am Rande seines Verstandes, ein einziger Blick auf die drei Mädchen konnte ihn zu einer Kurzschlusshandlung bewegen. Und dann?
    »Er hat mich wirklich ausgelacht! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich diese Sache hier unterschlagen werde? Das hat er gesagt. Ich wusste, dass er wütend auf mich war, sogar stinksauer, weil ich mit dem Gedanken spielte, das Geld für das Hagebutten-Mädchen einzustreichen. Wir haben uns schrecklich gestritten. Es kam selten vor, dass wir es taten, aber an diesem Abend haben wir so lang gestritten, bis wir beide nicht mehr konnten, und dann haben wir es sein lassen und die Sache vertagt.
    Unausgesprochen hat uns das Problem Tag für Tag beschäftigt, bis er mir dann vor ein paar Tagen sagte, dass die Langeooger am Wochenende auch kämen und er ihnen das Hagebutten-Mädchen mitgeben würde. Vorher wollte er aber noch einen Experten für alte Bücher zu Rate ziehen, damit der Akkordeonverein wüsste, mit welchem Wert er nach Hause fahren würde. Ich hab dann nichts gesagt und ihn in dem Glauben gelassen, er hätte gewonnen. Doch in Wahrheit habe ich mich in diesem Moment entschieden, das Instrument verschwinden zu lassen. Irgendwie dachte ich, dass ich nur ein wenig Zeit gewinnen musste, um Kai von meinen Plänen zu überzeugen.«
    Sie musste ihn ablenken, sie musste ihn in ein Gespräch verwickeln, damit er nicht den Kopf wandte und die Mädchen erblickte, die noch immer ihre Köpfe über den Deichkamm reckten und zu beraten schienen, was zu tun sei. »Sie wollten also verhindern, dass Ihr Lebensgefährte dieses Schriftstück zurückgab. Es ging Ihnen gar nicht um das Instrument, sondern nur um diese losen Blätter?«
    »Sind Sie schwer von Begriff?«, schnauzte er sie an. Ja, es fehlte nicht mehr viel, bis er endgültig die Nerven verlor. »Nur diese losen Blätter? Es war ein handschriftliches Manuskript von Theodor Storni, mehr als hundertfünfundzwanzig Jahre alt, super erhalten! Einen solchen Fund macht man nur einmal im Leben!«
    »Und wo ist dieses Hagebutten-Mädchen jetzt?«
    »Ich habe keine Ahnung! Wirklich nicht! Überall habe ich es gesucht, unsere Wohnung habe ich durchgekämmt von oben bis unten, sogar dieses verfluchte Instrument habe ich auseinandergenommen, aber da hat Kai es natürlich nicht wieder hineingesteckt, warum auch?«
    »Was hat Ihr Freund dazu gesagt? Er wird doch bemerkt haben, dass jemand am Akkordeon herumgewerkelt hat.«
    »Nein, das hat er nicht. Ich habe diese Suchaktion erst am Freitagabend gestartet. Weil ich mir sicher war, dass er ein paar Stunden auf dem Fest bleibt, und weil ich wusste, dass er diesem Schriftexperten von Wangerooge das Manuskript zeigen wollte. Deshalb musste es ja eigentlich in unserer Wohnung sein. War es aber nicht.«
    »Und dann?«
    »Natürlich habe ich das Akkordeon nicht wieder richtig zusammenmontiert bekommen, Kai hat sein Werkzeug im Laden. Deswegen bin ich mit dem Teil dorthin, und weil ich dachte, vielleicht finde ich ja auch dort Das Hagebutten-Mädchen.«
    Er ist also zwischen Viertel nach neun und zehn Uhr nicht spazieren gewesen, dachte Wencke. Natürlich war sie der Aussage des nächtlichen Füßevertretens ohnehin mit einer großen Portion Skepsis begegnet. »Also befanden sie sich im Laden. Also haben Sie uns gegenüber gelogen. Sie können sich vorstellen, dass Sie nun in meinen Augen mehr als verdächtig erscheinen, dass Sie selbst Ihren Freund ermordet haben?«
    »Aber…« Er starrte sie an. »Ich habe nur dieses Manuskript gesucht. Mehr nicht! Ich habe es nicht gefunden, wirklich, Kais Laden ist eine Rumpelkammer gewesen, das haben Sie ja selbst gesehen. Nach zwanzig Minuten bin ich wieder weg. Ach du Scheiße, na klar, nun bin ich dran!« Er schwankte ein wenig. Die verkrampfte Kopfhaltung musste seinen Gleichgewichtssinn durcheinander bringen. »Nun bin ich Kais Mörder!« Er lachte laut auf. Der Lauf rutschte vom Hals. Er grinste merkwürdig. »Aber das spielt jetzt ja sowieso keine Rolle mehr.« Dann löste sich der erste Schuss. Ein reißender Knall zerfetzte die Stille auf der Insel. Im Watt beschwerten sich lautstark die

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