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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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dann auf die Frau gezielt!« – »Hat er nicht!« – »Hat der doch, ich bin noch mal kurz heraufgekrochen, und da hat er auf die Frau gezielt, ganz kurz bevor der zweite Schuss fiel, ich hab’s genau gesehen!« – »Dann ist sie jetzt tot?« – »Kann sein!«
    Sanders ließ das Fahrrad am grasbewachsenen Bordstein fallen und jagte mit weiten Schritten den Deich hinauf. Er hätte gern die Augen geschlossen, so sehr fürchtete er sich davor, dass sich die Bilder von eben als Wahrheit herausstellen könnten. Jetzt kam es auf ihn an, er musste geistesgegenwärtig handeln. Er bestieg den grünen Schutzwall. Er griff mit der rechten Hand an den Gurt, zog die Waffe heraus. Nicht einen Moment überlegte er, seine Finger entsicherten beinahe von selbst mit einem winzigen Klick die Pistole, er war im Einsatz. Er war bereit.
    Die Deichkante schien immer tiefer zu sacken, je höher er kam, und schließlich konnte er die Szene sehen. Seine Augen erfassten die Fakten wie ein Scanner, Stück für Stück. Wencke hatte den Kopf eingezogen und zur Seite geneigt, als wolle sie sich kleiner machen und die Angriffsfläche dezimieren, auf die der Lauf der fremden Pistole gerichtet war. Doch Wortreich stand nur einen Schritt entfernt, seine Kugel würde sie in jedem Fall durchbohren, er hatte beide Hände an der Waffe, zielte, leicht breitbeinig, steif wie beim Sportschießen. Kein Wort fiel. Kein Blick wanderte in Sanders’ Richtung. Es stand fest, was geschehen würde. Es gab nur ein Ende: Ein Schuss würde fallen. Sanders streckte die Arme aus und kniff ein Auge zusammen.
    Er müsste rufen. Eigentlich, streng nach Vorschrift, müsste er die Person warnen, die er ins Visier genommen hatte. »Lassen Sie die Waffe fallen, hier ist die Polizei!«, oder so etwas in der Art müsste er laut und deutlich von sich geben. Viel zu lang. Genug Zeit für Wortreich, den dritten Schuss loszujagen. Wer schon zweimal abgedrückt hat, dem sitzt der Finger ganz locker am Abzug.
    Sanders folgte mit den Augen dem Lauf der Dienstwaffe. Seine Position war ungünstig, er konnte Wortreich nicht erwischen, ohne Wencke zu gefährden. Wie in Zeitlupe, die Pistole nach wie vor im Anschlag, schritt er seitwärts nach links, ganz langsam, eine hektische Bewegung könnte auffallen, könnte in den Blickwinkel der beiden Personen am Deichfuß geraten und die unvermeidliche Kettenreaktion auslösen. Irritation, Panik, Schuss.
    Drei Meter weiter, er blinzelte wieder, Wortreichs Körper erhob sich hinter der fixierten Mündung, er konnte ihm ins Bein schießen, in die Schulter, in den Kopf. Sanders holte tief Luft. Noch immer machte die Anstrengung der hastigen Fahrt ihn zitterig, einmal tief durchatmen, einmal die volle Konzentration hochfahren, aber dann musste es geschehen. Es blieb nicht viel Zeit, ein Schuss würde fallen, und er musste aus seinem Pistolenlauf kommen, nicht aus dem, der auf Wencke zeigte. Das Bein. Es musste reichen. Wencke würde die Chance ergreifen und Wortreich die Waffe entreißen, sobald dieser zu Boden gerissen war. Sanders atmete aus. Und Schuss!
    »Halt, nicht schießen!«, schrie eine Stimme von hinten. Wortreich riss voll Schrecken den Körper herum. Der Knall folgte im selben Augenblick. Wortreich blickte in Sanders’ Richtung, als könne er das Projektil bei seinem Flug beobachten. Warum hatte er sich bewegt? Das Bein war nicht mehr an der Stelle, wo Sanders es angepeilt hatte. Die Bewegung hatte alles verschoben. Die Kugel traf in den Oberkörper, Wortreich fiel nach hinten, als wäre er umgestoßen worden. Die Vögel stoben in den Himmel.
    »Nicht schießen!«, brüllte wieder diese Stimme. Es war Glaser. Er stand ein paar Meter hinter Sanders und schaute in Wortreichs Richtung. Sein Gesicht war wie versteinert. Sanders folgte Glasers Blick. Henner Wortreich bewegte sich nicht mehr.

Sonntag, 21. März, 14.02 Uhr
    S eltsam, sie musste eingeschlafen sein. Die Müdigkeit musste sie hinterrücks auf der Gartenbank übermannt haben. Eigentlich war es nur verständlich, dass Astrids Körper sich zurückholte, was sie ihm in den letzten zwei Nächten vorenthalten hatte.
    Und nun war sie aus ihrer traumlosen Ohnmacht herausgerissen worden und sie hatte die unklare Erinnerung an einen Schuss, den sie gehört hatte. Benommen rieb sie sich mit den flachen Händen über das Gesicht. Die Kratzwunden von Seike brannten und ihre Wangen waren heiß. Sie hatte zu viel Sonne abbekommen. Sie gähnte kurz und spürte, dass ihr Mund rau und pelzig

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