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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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die kleine, dunkle Mündung genau auf sie gerichtet war. Sie hatte es übertrieben. Das war also der Moment, auf den es hinauslaufen sollte. Sie schaute ohnmächtig in ein schwarzes Loch, an dessen Ende eine neue Kugel darauf wartete, hinausgeschleudert zu werden. Es war aber unlogisch, dass er die Waffe auf sie richtete. Hatte Sie ihn wirklich mit den paar Sätzen, die die weiße Weste seines Freundes nicht ganz so weiß erscheinen ließen, dazu gebracht? Aber was brachte es ihm, wenn er Wencke nun erschoss? Oder wollte er verhindern, dass sie die eben erfahrene Wahrheit weitererzählte? Er brauchte sie nicht zu töten, sie wusste doch nur von diesem unwichtigen Unterschlagungsversuch, alles andere war bislang unausgesprochen geblieben. Gut, wahrscheinlich hatte er seinen Lebensgefährten im Streit betrunken gemacht und ihn zum Sterben in das winzige Schaufenster verfrachtet, das könnte gut sein. Aber wenn er nun abdrückte, so brachte ihm diese kleine Fingerbewegung nichts ein. Außer Mord. Es war so sinnlos. Wencke schloss die Augen. So sollte die ganze Sache also ausgehen.

Sonntag, 21. März, 14.01 Uhr
    E s ging nicht schneller, es ging nicht schneller. Sanders raste die Straße am Fuße des Deiches entlang und kam sich vor, als befahre er ein Fließband in entgegengesetzter Richtung, er trat wie von Sinnen in die Pedale und fühlte sich doch, als verharre er an Ort und Stelle. Der Schuss peitschte Sanders noch weiter voran, er war erst beim Bootshaus, als der Knall ihm direkt in die Muskeln zu fahren schien, noch zweihundert Meter bestimmt, es ging nicht schneller. Verfluchtes Fahrrad.
    Glaser strampelte ein ewig weites Stück hinter ihm gegen die Zeit an. Sein Kollege war nicht ganz so schnell. Sanders wusste, Glaser wurde fast verrückt vor Angst, seine Tochter hatte strikte Anweisungen erhalten, sich vom Ort des Geschehens zu entfernen, aber nun schien er kaum atmen zu können vor Sorge. Sanders hingegen wäre auch ohne jeden Sauerstoff weitergefahren, er spürte einen Druck im Körper, der ihn in diesem Moment gleichzeitig niederpresste und zur Höchstform auflaufen ließ. Wencke.
    Und dieser Wortreich hatte eine Waffe. Wencke hatte keine. Sie war so unvernünftig. Nie trug sie ihre Dienstwaffe, so eine verfluchte Nachlässigkeit. Wenn dir was passiert, Wencke Tydmers, dachte Sanders, wenn dir was passiert, dann bist du wirklich selbst Schuld daran. Doch diese trotzigen Verwünschungen machten nichts leichter, im Gegenteil. Sanders erschien dieser Deich so unendlich und steil, so ewig lang und unbezwingbar. Kam er überhaupt ein bisschen voran?
    Ein zweiter Schuss! Und danach wieder das Schreien der Vögel und die Ruhe, die hinter seinen rasselnden Atmen lag. Und wenn dieser Schuss getroffen hatte? Wenn er nicht in der Lage gewesen war, ein bisschen schneller zu fahren, ein klein bisschen schneller, und seine Unfähigkeit nun Wencke das Leben gekostet hatte? Bilder tauchten vor seinen Augen auf, er stieg über den Deich und fand ihren Körper dahinter, rote Flecken auf ihrer Jeansjacke, ihre Jeansjacke… Er wischte sich den Schweiß fort, der von der Stirn in die Augen tropfte, die Bilder verschwanden nicht. Die roten Haare auf der Erde, grüne Halme kitzelten an ihren breiten Lippen, sie bewegte sich nicht, Wencke war tot. Bitte nicht!
    Obwohl, es konnte ja gar nicht sein. Wencke war unverwüstlich. Wenn jemand beharrlich diese Welt in Beschlag nahm, so war es Wencke. Vielleicht dieses Mal aber nicht. Ihr Körper war so zierlich, Sanders hatte sich heute Nacht darüber gewundert. Die Haut unter ihren Kleidern war ganz hell gewesen und weich wie Sand, unter den kleinen Brüsten hatte er die Rippen zählen können, mein Gott, wie zerbrechlich hatte sie ausgesehen, als sie nackt gewesen war. Sie hatte keine Chance.
    Nun sah er die Mädchen. Sie lagen auf der meerabgewandten Seite im Gras. Beinahe bewegungslos. Als sie ihn heraneilen sahen, sprangen sie auf, er konnte ihnen die Erleichterung über sein Kommen im Gesicht ablesen. Sie rannten ihm entgegen. Bitte nicht rufen, dachte Sanders, bitte schreit mir nichts entgegen, auch wenn ihr noch so platzen wollt vor Angst. Sollte Wortreich noch nicht wissen, dass ihr da seid, so soll er auch jetzt nicht erfahren, dass ich komme. Zum Glück blieben die Mädchen leise und er konnte erst, als er sie erreicht hatte, ein paar Sätze aufschnappen. »Der Kerl ist total durchgedreht. Ballert in der Luft rum.« – »Hat sich die Knarre an den Hals gehalten!« – »Und

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