Das Hagebutten-Mädchen
dran sein. Bislang waren es ja doch nur ihre Hirngespinste gewesen, doch als Kai ihr bestätigt hatte, dass sich Gerrit im Haus in der Dellertstraße aufhielt, da war sie sich sicher gewesen. Und auch, was er anschließend zu ihr gesagt hatte, passte nur zu gut zu ihrem Verdacht.
»Wie kannst du so gelassen aussehen?«, hatte er schließlich gefragt. Gelassen! Er hatte wirklich nichts gemerkt. Und dann hatte er plötzlich an ihre Schulter gefasst. »Wir sind diesmal beide die Betrogenen, Astrid. Wir sollen beide ausgenommen werden. Sie wollen dir dein Haus nehmen, ich weiß es erst seit heute. Und Henner hat mich deswegen hintergangen. Er hat mich bestohlen, um an das Geld zu kommen. Ich werde ihm nie wieder trauen können.«
Sie war von seiner Bewegung zurückgewichen. Wie kam er darauf, sie anfassen zu dürfen?
»Kommst du mit, Astrid? Wir sollten die Sache jetzt klären! Ich gehe in den Laden, wahrscheinlich werden Gerrit und Henner auch dort auftauchen, weil sie denken, dass ich nach dem Manuskript suche. Es wäre das Beste für uns alle, wenn du dabei bist. Dann können sie ihre Intrigen vergessen, wenn sie sehen, dass wir beide uns verbündet haben. Verstehst du mich, Astrid? Es ist wichtig, dass du mitkommst!«
Was für ein Manuskript? Welche Intrigen? Wie und warum um alles in der Welt wollten sie ihr die Villa Waterkant wegnehmen? Oder war es nur eine Falle? Wollte Kai sie wieder demütigen?
Astrid hatte in diesem Moment nicht gewusst, welche Fragen sie sich noch stellen sollte, wem sie an diesem Abend wirklich trauen konnte. Er hatte nach Schnaps gerochen, er hatte wirres Zeug von sich gegeben, er war der letzte Mensch gewesen, mit dem sie, fast mitten in der Nacht, verschwinden wollte.
»Ich bleibe hier. Michel schläft. Ich kann ihn unmöglich allein lassen!«
»Das kannst du nicht machen. Bitte, Astrid!«
Astrid hatte nach der Terrassentür gegriffen und sie zugeschoben, obwohl Kai noch immer mit einem Fuß in der Tür gestanden hatte. Ohne jegliche Gegenwehr war er zurückgewichen.
»Astrid, hör zu! Die wollen dich klein kriegen! Und die werden es auch schaffen, wenn du schon wieder den Kopf in den Sand steckst.«
Doch sie hatte den Fensterhebel nach oben gelegt und den Schlüssel umgedreht. Nur leise waren Kais Worte zu ihr hereingedrungen. »Es ist nicht richtig, immer wieder davonzulaufen, Astrid, überleg es dir noch mal. Ich fahre jetzt in den Laden, du weißt, wo du mich findest. Du kannst mir vertrauen, ich werde mich an deine Seite stellen!«
Sie hatte sich umgedreht und wieder in den Sessel gesetzt, er hatte noch ein paar Minuten dagestanden, bis er nach fünf Minuten endlich verschwunden war.
So war es gewesen am Freitag. Sie war in Panik geraten, ihre Befürchtungen über Gerrit schienen ausgerechnet von Kai Minnert bestätigt worden zu sein. Der Verdacht hatte sich ja inzwischen als falsch herausgestellt: Ja, Gerrit war am Freitag zwar in Kais Haus gewesen, allerdings in der Wohnung nebenan. Kai hatte also nicht von einer Affäre zwischen Gerrit und Henner gesprochen, er musste an diesem Abend von der Sache mit Seike erfahren haben. Er hatte ihr sagen wollen, dass Gerrit die Scheidung plante, dass Henner sich dabei das Haus unter den Nagel reißen wollte und dafür einen Diebstahl begangen hatte. Und es musste dabei um eine Menge Geld gegangen sein, denn Astrid wusste, wie viel die Villa Waterkant wert war.
Sie hatte am Freitag den Liebesfilm im Fernsehen zu Ende geschaut, hatte die Sofakissen wieder zurechtgerückt und den Couchtisch abgewischt, das Saftglas ausgespült, das Licht ausgeknipst, den Mantel übergeworfen, die Haustür hinter sich zugeschlossen.
Wenn sie jetzt darüber nachdachte, fast zwei Tage später, war sie immer noch sicher, dass sie, als sie das Haus verließ, nicht die Absicht hatte, Kai zu töten. Warum auch?
Sie stand noch immer an der Spüle, trank noch ein Glas Leitungswasser. Ihr Blick fiel durch das Küchenfenster wieder in Richtung Deich. Der Polizist hatte sein Rad an den Straßenrand geworfen und stieg mit großen Schritten den Deich hinauf. Astrid griff mit der Hand unter die Spüle. Der gefütterte Umschlag klebte noch immer seitlich im Schrank unter dem Becken. Es war kein gutes Versteck, das sie Freitagnacht ausgesucht hatte. Doch sie war benebelt gewesen vom Sekt, den sie in Kais Laden getrunken hatte, und vom Wissen, etwas sehr Wertvolles in ihren Besitz gebracht zu haben. Sobald die Polizei nicht mehr jeden Moment vor der Tür stehen
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