Das halbe Haus: Roman (German Edition)
und der Kopf des Verlierers wird geschrumpft. Davon berichtete ihr mal das Kind, stockend, und sie war auch schon dort mit ihren Kollegen von der Post.
Schrecklich, das alles, so wie der Krieg, der ihnen doch auch nichts ließ, weder die Heimat noch die Habseligkeiten. Aber das Leben, Polina. An allem war doch bloß der Krieg schuld, und Katja war immer gut gewesen zu den Juden, hat ihnen Brot zugesteckt, als sie selbst kaum was hatten: Laib und Leben. Und wie ich mich schäme.
Sie öffnet das Fenster, um frische Gedanken einzulassen. Doch die Vorhänge schlagen um sich, und das Hochgefühl verlässt das Abteil. Sie selbst war nie eine Schwiegertochter gewesen. Die Mütter ihrer Männer waren tot. Geheiratet hat sie nie vor Gott, aber aus Not. Doch warum heiratet Frank? Das eine Mal war doch genug und zu viel. Lächelnd im Reisregen, da, in Naumburg, weinend am Grab, dort, in der Stadt, in der sie bald sein wird.
Und was wird aus seiner Sache? Was aus Jakob, dem hier geborenen Kind? Wer ist überhaupt diese Berliner Eva? Was ist das für eine Frau, die ihrem Sohn in so kurzer Zeit den Kopf verdreht hat? Die, Herrgott noch mal, Brot in Rosen verwandeln kann? Die keine Schwarten liest, schon mal verheiratet war, eine Tochter hat und einen echten sibirischen Fuchs, die promeniert und promoviert und irgendwie komisch ist, Brust raus, Bauch rein, Nase hoch, wie man so hört? Warum heiratet die einen, der weg will? Will die auch weg? Oder muss die jemand anders sein?
Über der Tiefebene kreist die Sonne. Wie Medizinbälle ruhen die Kürbisse auf den Feldern. Licht und Laub und gemahlene Kastanien liegen auf den Straßen. Autos überholen den Zug und werden von Schranken gestoppt. Vor den Häusern brennt der Ahorn. Graue Frauen mit bunten Beuteln warten auf Vorortzüge, Frauen ihres Alters. Niemand holt sie ab um ein Uhr zwo.
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Im Advent 1941 wurde Polina Sauer 27 Jahre alt. Sie hatte ihre Heimat, ihre Schwester und ihren Bräutigam verloren, also ließ sie sich eines verschneiten Tages heiraten. Es waren weder Eile noch Liebe geboten, sie glaubte nur, jemand anders werden zu müssen.
Weil der Führer ihr Heimatland an die Russen verscherbelt hatte, standen die Sauers aus Oloneschti von einem auf den anderen Tag mit leeren Händen da. Im September 1940 forderte man alle Deutschen auf, heim ins Reich zu kehren. Nur das Nötigste durfte mitgenommen werden: getragene Oberkleider, Schuhwerk, Wäsche, die sich im persönlichen Gebrauch befand. Jeder Haushalt konnte einen zweispännigen Wagen beladen. Tati waren 50 Kilogramm Gepäck gestattet, 25 allen anderen, die gesamte Familie wog 200 Kilogramm. Was Polina besaß, passte in zwei Koffer und einen Korb: die selbstgenähten Kleider, die Teile ihrer Aussteuer. Sie hoffte, dass ihr Bräutigam aus dem Krieg zurückkehren würde. Ihr Bräutigam hieß Emil, nur wohin sollte er zurückkehren.
Dann gab es noch ein Gepäck, das nichts und schwer wog: Lieder, Fähigkeiten, Ansichten und Worte. Die Lokomotive hieß Barwoss. Der Knoblauch hieß Bibanella. Die Beule hieß Dutze, der Gänseflügel Flederwisch. Der Bahnhof Wagsall, die Birnen Gruschki. Und die Hagebutten hießen Arschkratzel. Diese Worte durften mitgenommen werden.
Nicht mitgenommen werden durften: Geldmittel jeder Art. Gold und Platin in Barren, Staub und Bruch. Edelsteine, Silber, Kunstgegenstände, Waffen, Galanteriewaren, Brieftauben, Drucksachen, Lichtbilder. Was zurückblieb, wurde in Listen verzeichnet.
Zurück blieben: der Hof in Oloneschti mit Wohnhaus, Werkstatt, Kuhstall, Pferdestall, Schafstall und Backhaus. Weideland, Vieh, Ackerland und eine Viehtränke am Fluss. Einhundert Obstbäume, Speisen für ein Jahr, Kartoffeln, Most und Würste, möge all dies den neuen Bewohnern im Halse stecken bleiben, den Russen. Sonnenblumen, Akazien, Rosen.
Den Wein goss Tati in die Viehtröge, dann band er Kühe und Schafe los, ho und jissel, jissel. Katja ließ die Hunde von den Ketten und schnitt die Köpfe der Rosen ab. Zurück blieben die heulenden Hofhunde, besoffenes Vieh und Tante Rosa, die nicht in fremder Erde ruhen, sondern lieber in unserer guten Luft hängen wollte.
Beim Abschied sangen die Mädchen, sie auch: Nun ade, du mein Heimatland. Der Bräter (erlaubt) ging mit auf Reisen und das Fotoalbum (nicht erlaubt) auch. Voller Staub waren die Kruppen der Pferde. Jenseits des Pruth salutierten die Rumänen, damals waren die Grenzen fließend. Bereits in Galatz grüßte Deutschland seine
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