Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Beginn der Wintersaison im Angebot. Von wegen Krise.
Mit drei Koffern voll ollen Zeugs ist sie ausgereist, mit vier Koffern voll schöner Gaben fährt sie zurück: Whisky, Zigaretten, Schokolade, Strumpfhosen, Apfelseife. Sie hat einen Filter für Siegmars Aquarium dabei, Zigarren für Rudolf, einen schwarzen Anzug von C&A für Frank und einen für das Kind, Größe 164. Auch anlässlich einer Dummheit soll man tadellos gekleidet sein. Was Gescheites zum Lesen gibt es auch nicht, deshalb sind im Zwischenboden des einen Koffers doch Druckerzeugnisse versteckt, und zwar zwei Dutzend Schwarten. Ihre Schwiegertöchter lieben die Geschichten zum Groschenpreis, so wie sie selbst. Die Neue jedoch soll eine Studierte sein, hört man. Die liest nicht zum Vergnügen, hört man. Nicht etwa von Frank, sondern aus zweiter und dritter und hinter vorgehaltener Hand hört man das. Von Frank ist seit Mai kaum etwas zu hören. Vom Kind auch nicht.
Zum Glück wollen die Grenzer ihre Koffer nicht kontrollieren. Der eine erklärt ihr noch, dass sie sich polizeilich melden müsse, binnen vierundzwanzig Stunden, und reicht ihr den grünen Pass zurück, auf dem ein goldener Adler seine Fittiche spannt. Dann ruckt der Zug an, und sie ist drinnen. Die Müdigkeit verlässt das Abteil, und ein Hochgefühl setzt sich neben sie.
Der Himmel ist licht, der Wald von feuchtem Grün. Hoch droben auf einem Bergkamm thront die tausendjährige Burg, Dächer und Turm vom Glast umhüllt, die Mauern sind eingerüstet. Über einen Eselspfad kann man hinaufreiten, besonders für ein Kind sollte das ein schönes Erlebnis sein, vorausgesetzt, das Kind ist nicht so störrisch wie der Esel. Oben gibt es die Luther-Stube mit dem Tintenfleck und die Elisabeth-Kemenate. Für das große Jubiläum im nächsten Jahr wird das alles wiederhergerichtet. Als Elisabeth einmal in ihrem Mantel Brot zu den Armen schmuggeln wollte, wurde sie von ihrer Schwiegermutter zur Rede gestellt. Was denn unter dem Mantel verborgen sei, fragte die Schwiegermutter. Rosen, log Elisabeth, und Rosen kamen zum Vorschein.
Am Fuß der Burg, bei Eisenach, nimmt Keinschönerland seinen Anfang und erstreckt sich bis Leipzig. Es reicht von dort, wo der Johann Sebastian Bach geboren wurde, bis dahin, wo er gestorben ist. Es ist ein Land aus Versen und Musik, es gibt kein schöneres in dieser Zeit. So sagte es der Mann zu ihr, der die deutsche Kultur und sie liebte, Ersteres mehr. Weil sie sich so gar nicht auskannte mit der deutschen Kultur, erklärte er es ihr mit rollendem R: Die gesamte Strecke zwischen den Bachstädten mit den Stationen Gotta, Erfurt, Weimar, Jenna und Naumburg, das sei eben die Perlenschnur der deutschen Kultur. In diesem Lösstal vom Fuß des Thüringer Waldes bis zur Leipziger Tieflandsbucht sei alles aufgereiht, was das Land an Bedeutendem, an Guttem hervorgebracht habe: die Druckkunst und die Klassik und die Philosophie, der Protestantismus, die Musik und die Baukunst, die Optik, die Buchgestaltung. Alles, was das Herz und der Verstand begehren. Es gebe Fachwerkhäuser und steinerne Hohlwege in den Städtchen, Burgen, stolz und kühn am Saalestrand, Wein und Schaumwein an der Unstrutt, Talsperren und Dampfer und Faltboote auf den blauen Bändern der Flüsse, es gebe Kirchen und Dome und Stifte, nie zu vergessen die schöne Utta in Naumburg. Leider, so sagte der Mann, stecke zwischen all dem auch Buchenwald fest, das Konzentrationslager. Leider.
Wenn Schulklassen oder Kollektive einen Ausflug in diesen Landstrich machen, dann besuchen sie zuerst das Haus am Frauenplan mit den Pulten, Büsten und Tafeln von der Farbenlehre, das Gartenhaus auch, um dann hochzugehen auf den Ettersberg mit dem grauen Kies, dem Krematorium, dem Arbeit-macht-frei, den Baracken, den Lampen aus tätowierter Menschenhaut, den Bildern vom Zahngold, von den Haarhaufen und Schuhbergen, den Schrumpfköpfen, der Geschichte vom versteckten Kind. Über den großen Öfen ist zu lesen: »Ich liebe die Wärme und das Licht. Darum verbrennt mich und begrabt mich nicht!« Mahnend schlägt die Glocke im Turm, und das Feuer in den Schalen brennt für die antifaschistischen Widerstandskämpfer, die unsagbares Leid litten und deren Vermächtnis »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!« allen friedliebenden Menschen Verpflichtung sein muss, hier und anderswo. Und dann dämmert es, wird Abend und Nacht, und stumm geht es im Bus, im Zug zurück aus dem Schmerzland. Nur die Dummen und Stumpfen spielen Mau-Mau,
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