Das halbe Haus: Roman (German Edition)
»Ach ihr. Was ist es mit diesen Sowjetmenschen und was mit den Hitleristen. Abgesprochen haben sie sich, sodass wir mussten unsere Heimat verlassen.«
Tati sagt: »Noch zur Baumblüte werden wir zurück sein.«
Also lässt Polina Horst Friedrich wissen, dass sie nicht mehr mit ihm auszugehen wünscht. Bald komme ihr Bräutigam aus dem Krieg zurück, noch vor dem Winter, und im Frühjahr werde sie mit ihrer Familie heimkehren.
Fortan geht sie allein oder mit Liesl ins Kino. Im Osten kommt der Regen, die Herbstnässe, die Schlammzeit, und dann kommt der Schnee. Im Heeresbericht heißt es, man müsse nun im Wesentlichen Ruhe halten. Also scheinen die Angriffe auf Petersburg und Moskau erfolglos gewesen zu sein. Der Feldzug gegen die Russen ist noch nicht vorbei. Aus Afrika werden heftige Kämpfe gemeldet. Gar nichts ist vorbei. Am 11. Dezember erklärt Deutschland den USA den Krieg. Tati ist verstummt, Arthur nach Berlin gegangen, Martha und Betty drehen Gewehrläufe, Tante Rosa und Anni schlafen für immer, niemand kauft Hüte, und Katja bindet einen Kranz aus Tannengrün mit vier roten Kerzen. Mit Apfelpunsch feiern sie Polinas Geburtstag. In der Zeitung mehren sich die Todesanzeigen: Heldentod im Kaukasus, in tiefstem Schmerz. Unser jüngster, lieber Sohn, guter Bruder, treusorgender Gatte, einziger Sohn, getreu seinem Fahneneide fiel er für das Vaterland, im Felde, im blühenden Alter von 25, 28 Jahren, mein geliebter Bräutigam. In unsagbarem Schmerz.
Einen Tag nach ihrem Geburtstag erhält sie die Nachricht.
Und was bekam des Soldaten Weib aus der alten Hauptstadt Prag? Aus Prag bekam sie die Stöckelschuh. Und was bekam des Soldaten Weib aus der Lichterstadt Paris? Aus Paris bekam sie das seidene Kleid. Und was bekam des Soldaten Weib aus dem weiten Russenland? Aus Russland bekam sie den Witwenschleier.
Weiß zergehen die Himmel, die Welt erstickt im Schnee. Die Wasser sind gefroren, sie stürzt. Nur gut, dass sie kein Waisenkind geboren hat.
Am Freitag vor Heiligabend heiraten Viktor und Liesl. Sie geht nicht hin. Sie geht nirgendwohin. Doch Horst Friedrich wirft Schneebälle an ihr Fenster. Sie solle wenigstens mit zum Fest kommen, Viktor und Liesl hätten einen Saal am Zindelplatz gemietet. Es gebe Pellkartoffeln und Quark mit Leinöl, eine Delikatesse in diesen Zeiten der Kartoffelnot. Auch werde eine Kapelle musizieren. All das könne sie auf andere Gedanken bringen. Sie müsse ja nicht tanzen. Sie solle sich etwas Hübsches anziehen und ihre Papiere mitnehmen, es gebe seit neuestem Kontrollen.
Auf dem Weg durch die Stadt hakt er sich bei ihr unter. Vor dem Rathaus bleibt er stehen. Er habe noch etwas zu erledigen, sagt er. Es gehe ganz schnell. Er spricht zwei Passanten an, ein junges Paar. Ob die beiden ihre Papiere dabeihätten und sich je fünf Mark verdienen wollten?
Das Rathaus riecht nach Bohnerwachs. Unter seinem Mantel trägt Horst die SA -Uniform. Der Standesbeamte sagt seinen Namen: Horst August Traugott Friedrich, geboren am 13. April 1907 in Forst, zwiefach geschieden, Vater dreier Kinder. Ob sie, Polina Sauer, geboren am 13. 12. 1914 in Weißenburg oder Akkerman im damals zaristischen Russland, den hier anwesenden Horst Friedrich unter den Augen der beiden Trauzeugen ehelichen wolle? – »Sag ja«, flüstert Horst. Und weil Polina Sauer ihre Heimat, ihre Schwester und ihren Bräutigam verloren hat, weil der Krieg andauert, weil Schnee fällt und weil sie glaubt, jemand anders sein zu müssen, sagt sie: »Ja.«
Als sie das Rathaus verlassen, läuten die Glocken der Stadt- und Hauptkirche, die ein Jahr später wegen des großen Metallmangels abgenommen werden. Ihr einziges Hochzeitsgeschenk ist ein Buch, das ihr der Standesbeamte überreicht hat. Gesamtauflage sämtlicher Ausgaben bisher: 8 345 000 Exemplare, wie stolz auf der Impressumsseite vermerkt wird. Für das Foto näht sie sich nachträglich ein weißes Kleid, mit Schleier.
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Ein Geräusch nimmt Gestalt an. Ein Scheppern wird zum Schellen wird zum Läuten. Sie setzt die Brille auf. Die Katze, die bei ihr geschlafen hat, springt vom Bett und streckt sich. Jakob und das Mädchen schlafen auf dem Boden. Er hat die Nacht durchquert, vom Bodensee bis hierher, und jetzt ist er da. Sie greift nach dem Glas mit den Zähnen.
Der Tag ist blass und kühl, es riecht nach Kohle. Die Haustreppe ist voller Scherben – Geschirr, Keramik, zertrümmerte Waschbecken –, und vor der Pforte steht ein Mann. Sie kennt den
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