Das halbe Haus: Roman (German Edition)
erinnern, wie sie manche Nachtfahrt bis in den Norden führte, auf der schlecht beleuchteten Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Mehrmals fuhr sie am St. Georg vorbei, nie hielt sie an. In der Nacht vom 21. auf den 22. August musste sie ein Telegramm in Wiederitzsch zustellen. Auf dem Rückweg parkte sie direkt vor dem Krankenhaus. Das Pförtnerstübchen war nicht besetzt, auch auf der Station war niemand. Die Schwestern, die Ärzte und der Pförtner saßen draußen im Pavillon und feierten, dass sie am Leben waren. Ihre Schwiegertochter teilte sich ein Zimmer mit fünf anderen Frauen ohne Eierstöcke und Brüste, nur hinter ihrer Stoffwand brannte Licht. In Friederikes Bett lag ein altes glatzköpfiges Kind wach. Als das Kind sie bemerkte, rollte es sich aus dem Bett und trippelte in einem Flügelhemd auf sie zu. Das Kind war kleiner als Friederike, hatte gelbe Zähne, gelbe Augen und stank beizend. Es griff ihre Hand und sagte etwas. Sie antwortete, dass sie nicht viel Zeit habe. Ihr Auto parke draußen mitten auf der Straße, sie müsse es gleich wegfahren. – Sie möge sich bitte setzen und ihm etwas erzählen, sagte das Kind. Es finde keinen Schlaf, es liege in tausend Sorgen. Alle würden behaupten, sich nicht vor dem Tod, sondern nur vor dem Sterben zu fürchten. Bei ihm sei es umgekehrt, sagte das Kind mit dünner Stimme. Es fürchte nicht das Sterben, nicht die Schmerzen, es fürchte den Tod. Dass geliebte Menschen mit so viel Trauer weiterleben müssten, fürchte es, während man selbst ins absolute, heillose Nichts eingehe. In die ewige Gegenwart, die schwärzeste Bodenlosigkeit, nur dass du es weißt. Ob sie, Polina, nicht von einem Jenseits erzählen könne, das eine Verbindung zum Diesseits halte. Von einem Ort der Seligkeit, auf den sich die Lebenden freuen könnten? – Das könne sie jetzt leider nicht, sagte sie, weil ihr Auto draußen so ungünstig parke. Sie habe nur einmal vorbeischauen wollen und müsse das Auto jetzt schnell wegfahren. Wenn sie das nächste Mal komme, schon bald, werde sie davon erzählen. Viel wisse sie zwar nicht darüber, denn ihre eigene Mutter habe nichts vom Paradies gehalten, aber ihr werde schon etwas dazu einfallen. – Ob sie Hunger habe, fragte das Kind und zeigte auf eine Plastebox auf dem Nachttisch, worauf auch eine Vase mit Kornblumen stand. Man koche hier recht gut, wolle es aufpäppeln, mit Huhn und Obst, aber es könne nichts essen. »Bitte nimm das Abendmahl mit«, sagte das Kind. – »Bis bald«, sagte sie, die Box greifend. – »Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben«, bettelte das Kind, auf dem Bett sitzend. – »Ein andermal«, sagte sie. »Es ist wegen dem Auto.« – »Bitte«, sagte das Kind und sah sie mit großen Augen an, »sei an meiner Stelle Jakob eine Mutter.« – »Was redest du denn da«, sagte sie und ging schleunigst zu ihrem Auto. Bevor sie losfuhr, fraß sie das köstliche Huhn und die frischen Trauben auf. Sie sah noch, wie der Tod im Lodenmantel auf das Pförtnerhäuschen zulief. Der Pförtner feierte mit den Ärzten und Schwestern, dass er am Leben war. Sie hätte ihn rufen sollen, den Pförtner. Daran könnte sie sich jetzt erinnern. Tut sie aber nicht.
14. Wemfall und Eszett
Bezirksverwaltung
Für Staatssicherheit
L., den 13.09.82
Abtlg. XVIII/5
do/2172
A k t e n v e r m e r k
Zum OV „H e c h t“ – FRIEDRICH, Frank
Am 09.09.82 wurde im Rahmen einer sportärztlichen Untersuchung eine Stuhlprobe des Sohnes des Verdächtigen sichergestellt, um einen Abgleich mit dem von Grenzschützern unseres Landes sichergestellten verunreinigten Neuen Deutschland vom 27.07.81 vorzunehmen – siehe Eröffnungsbericht zum OV Reg.-Nr. XIII/110/82. Zum Zweck des optischen Vergleichs wurde der Stuhl des FRIEDRICH, Jakob auf ein Druckerzeugnis appliziert. Es wurde vermieden, dies mit einer Ausgabe des Zentralorgans der SED vorzunehmen. Statt dessen wurde die Ausgabe des LDPD-Zentralorgans Der Morgen vom 10.09.82 verwendet, das in Papierqualität dem ND gleicht. Da jedoch die Verunreinigungen auf dem ND vom 27.07.81 starken Verwitterungsprozessen ausgesetzt waren, war ein optischer Vergleich nicht zielführend. Auf eingehende Nachfrage sagte Dr. Lindner, Laborleiter des St. Georg-Krankenhauses, ein intestinales Ökogramm des Julistuhls sei ebenfalls nicht zielführend, da dieser mit den Monaten so „unspezifisch wie alles Organische“ geworden sei. Was den Septemberstuhl anbelangt,
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