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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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tanzender Jubelklang. Der Pfarrer sieht wie ein Junge aus, der seinen Turnbeutel vergessen hat. Schiefer Pony, schmales Gesicht, Nickelbrille. Aber er spricht gut. Er erzählt, dass er Frank und Eva durch lange Gespräche kennengelernt habe. Da hätten sich ja zwei gefunden, sagt er, die eine kundig der Sterne, der andere kundig des Ruderns. Sie müssten nur darauf achten, sich zu ergänzen und einander nie aus dem Blick zu verlieren. Eva habe sich als Trauspruch eine Zeile aus dem ersten Korintherbrief des Apostel Paulus gewünscht: »Die Liebe verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.« Frank dagegen habe sich etwas aus dem Psalter ausgesucht: »Du gibst meinen Schritten weiten Raum, dass meine Knöchel nicht wanken.« Er, der Pfarrer, habe beide eines Besseren belehren müssen. Denn die Brautleute seien jeder für sich sehr starke Charaktere, die an den jeweils anderen Ansprüche stellten. So erwarte Eva, dass Frank um der Liebe willen seine Freiheit einschränke. Frank erwarte von seiner Frau, dass sie ihm genau diese Freiheit aus Liebe gewähre. »Der Fehler beider«, sagt der Pfarrer, »lag darin, dass sie die Bibelworte in einem persönlichen, einem egoistischen Sinn an den anderen richteten. Diese Worte aber sind an Gott zu richten. Die Liebe und die Freiheit, die hier zur Rede stehen, sind nicht kleinlich. Sie sind nicht äußerlich oder materiell, sie sind weder durch Siege zu erringen noch durch Niederlagen zu erpressen. Die göttliche Liebe und die göttliche Freiheit sind zutiefst innerlich und friedfertig.« Deshalb, so der Pfarrer, habe er dem Paar auch einen anderen Trauspruch empfohlen, und Frank und Eva hätten zugestimmt. Der neue Spruch sei sehr zeitgemäß, er gelte nicht nur für das Zusammenleben von Mann und Frau, sondern auch für den Umgang von Gesellschaften und Staaten miteinander. »Von uns Deutschen ist im Laufe der Geschichte viel Leid ausgegangen«, spricht der Pfarrer, »und auch hier und anderswo ist das Unheil ansässig. Deshalb sage ich euch mit den Worten von Jesus Christus: Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Gebt euch die Hand zum Friedensgruß.« Leonore, die ein Blumenkörbchen auf dem Schoß balanciert, reicht ihrer neuen Großmutter die Hand. Diese sieht ihren Enkelsohn an und hält ihm die Hand hin. Er nimmt sie. »Friede sei mit dir«, sagen sie gleichzeitig. Mo schüttelt die Hände von Evas Freunden, die ihn geschlagen haben, Siegmar nimmt Rudolfs gesunde Hand, Jasper und Cora reichen sich die Hände. Dann werden Eva Meyenburg und Frank Friedrich getraut. Für beide ist es das zweite Mal. Zum Auszug singt die Gemeinde »Hevenu shalom alechem, wir wollen Frieden für alle«. Leonore und Jakob streuen Rosenblätter. Vor der Feldsteinkirche lassen sich Frank und Eva fotografieren. Jakob wird das Bild einkleben, es ist jetzt sein Album, seine Geschichte. Dann kommen Franks Arbeitskolleginnen, und jede hält einen Strauß weißer Ballons in den Händen. Ans Ende der Schnüre sind Glückwunschkarten geknotet, die in alle Welt segeln und auf dem Postweg zurückgesandt werden sollen, möglichst von weit her. Jeder Gast erhält einen Ballon, ein jeder soll einen guten Wunsch auffliegen lassen. Wer weiß, bis wohin es die Ballons schaffen, vielleicht bis nach Ceylon. Wie große Glühbirnen tanzen sie über den adretten Frisuren, dann zählt eine Frau von zehn bis null, und die Ballons taumeln in den Himmel. Ein roter ist auch darunter. Kopf im Nacken, blinzeln die Gäste den Ballons noch lange hinterher. Der Herr aus dem Westen ist nicht erschienen. Zum Essen, sagt Frank, würden sie nicht ins Puschkin, sondern in die Parkgaststätte gehen. Im Puschkin hätten sie Hausverbot.
    »Eva, wirf jetzt den Brautstrauß«, ruft die Brautjungfer, die kurz die Schwiegertochter war. »Ich bin so was von bereit.«
    »Lass lieber die Hände davon, Mädchen«, sagt die große Blonde.
    »Ja, Eva, wirf jetzt«, sagt eine andere Brautjungfer.
    »Ich möchte den Strauß nicht werfen«, sagt Eva. »Ich möchte ihn auf das Grab von Franks erster Frau legen.«
    Die ist so gerissen, die will sogar die Erinnerungen an eine Tote beherrschen, denkt ihre Schwiegermutter. Mehr will sie jetzt nicht denken. Obwohl sie das könnte.
    ★
    Sie könnte sich daran erinnern, wie sie Spätschicht gefahren ist im Sommer 1972, damit sie tagsüber auf das Kind aufpassen konnte, während Frank bei seiner sterbenskranken Frau war. Sie könnte sich daran

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