Das halbe Haus: Roman (German Edition)
er, »wir müssen abhauen.«
Er stopft die Karte in den Rucksack und wirft die Kamera und das Fernglas hinterher. Er reißt seinen Sohn am Arm. Geduckt rennen sie in den Wald, der Kriegshäuptling voran. Den Kugelschreiber mit den drei Farben vergisst er.
An der Waldkante, fünfzig Meter südwärts, steht ein Hochsitz. Sie steigen die Leiter hinauf, der Junge vornweg, doch er prallt gegen die Brettertür. Frank zwängt sich vorbei und rüttelt daran. Er zerrt und stößt, der Junge springt von der Leiter, dann brechen die Bänder aus dem Holz.
Die Hütte ist geräumig, sie können aufrecht darin stehen, an drei Wänden befinden sich Sitzbänke und oben breite Sehschlitze. Drinnen riecht es nach frisch geöltem Gartenzaun, Hylotox, DDT und DDE , pures Gift. Er zieht seinen Sohn hinein und verschließt die Tür notdürftig.
Von hier oben ist die Schneise noch besser zu überblicken. Wie ein Bötchen in schwerer See wird ein grünes Gefährt über Wellenkämme gehoben und in Täler gedrückt, bis es, dem Auge für Momente entzogen, neu auf- und wieder abtaucht. Nach einer Weile kann Frank Friedrich erkennen, dass es ein Trabant mit Ladefläche ist. Sein Sohn steht neben ihm auf einer Bank und kann es auch erkennen. Vorn sitzen zwei und hinten auch. Der Wagen nähert sich über den Kolonnenweg, und als die Soldaten abspringen und aussteigen, hört man fern ihre Rufe, zerrissene Kommandos. Zwei Eichelhäher jagen durch den Wald und schlagen Alarm.
Die Männer tragen Schiffchen auf den Köpfen, ABC -Taschen an den Hüften und Maschinengewehre über den Schultern. Sie sind bartlos, haben alle die gleiche Statur, sind mittelgroß und schlank. Sie wollen Medizin studieren oder Musik, sie wollen Kinder unterrichten, sie wollen für ihre kleine Familie eine Zweiraumwohnung ergattern, sie wollen es ihren Vätern recht machen, sie wollen ans Schwarze Meer reisen und an den Balaton, sie opfern drei Jahre ihres Lebens für einen besseren Rest. Sie folgen der Fährte der Tiere, bis sie vor ihnen stehen. Die Ricke kniet im Gras, und das Kitz trippelt um die Mutter, unfähig zu fliehen. Einer der Grenzsoldaten fotografiert die Rehe. Er wechselt den Standort, kniet nieder, geht näher, entfernt sich. Er hat alle Zeit der Welt. Ein anderer stemmt seine Maschinenpistole gegen die Schulter. Eine lange, pochende Salve ist zu hören. Dann ist es still, und dann ist eine kurze, trockene Salve zu hören.
Frank Friedrich hält den Kopf des Jungen in seinen Händen. »Hast du Schiss?«
Der Junge nickt in die Hände des Vaters.
Frank Friedrich hält den Kopf des Jungen fester, sodass er nicht mehr nicken kann. »Du brauchst keinen Schiss zu haben, kapiert.«
Der Junge verschließt seinen Blick.
»Hast du echt Schiss?«
»Nein«, sagt der Junge und windet sich aus dem harten Griff. Seine Ohren glühen.
»Gut. Musst du nämlich auch nicht.« Viel leiser sagt er: »Wir ziehen das zusammen durch.« Plötzlich ist er schlafensmüde.
Einmal, vor Jahren, wollte er seinen Sohn allein lassen. Wegen einer Frau, für eine Nacht. Er hatte sie am Vorabend in einer Bar kennengelernt, sie hatten zusammen getrunken und gelacht. Er hatte sie nach Hause gefahren und ihre Schenkel unter dem Saum des kurzen Kleides berührt. Weil sie ihn nicht mit nach oben nahm, senkte sich die Sehnsucht in ihn. Sie hatte gesagt, er könne morgen zu ihr kommen. Doch morgen musste er auf seinen vierjährigen Sohn aufpassen, weil Polina die Nachtschicht fuhr. Er putzte dem kleinen Jungen die Zähne, kämmte sein Haar, cremte sein Gesicht. Während er dies tat, dachte er unentwegt an die Frau. Wie sich ihre Haut angefühlt hatte, wie ihr Haar roch. Dann legte er sich neben seinen Sohn und las ihm eine Geschichte vor. Sie waren noch nicht bei den Indianern, es war irgendeine dieser Geschichten, die ihn so sehr langweilten, dass er sie beim Lesen vergaß. Der Junge bettete den Kopf auf seine Brust und atmete gleichmäßig. Er wurde selbst ganz ruhig. Er würde die Frau vergessen, sie war nichts Besonderes. Ob er weggehe, er gehe doch nicht weg, fragte ihn der Junge, als er das Buch beiseitetat. »Nein«, sagte er und meinte es auch so. »Schlaf jetzt«, sagte er und zog die Tür zu, bis auf einen Spalt, durch den etwas Licht ins Kinderzimmer fallen konnte. Er rauchte und zupfte ein paar Akkorde auf der Gitarre. Nach einer Viertelstunde stellte er die Gitarre beiseite. Er zog sich aus und wusch sich am Waschbecken unter den Achseln und im Schritt. Er putzte seine Zähne,
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