Das halbe Haus: Roman (German Edition)
längliche Schachtel.
Polina betrachtet die beiden und sagt: »Das ist ein viel zu großes Geschenk, Moritz.«
Mo nimmt die Verpackung und findet die richtige Lasche. Er zieht die mattschwarze Uhr heraus und presst die Spitze des Schneidemessers mehrmals auf einen winzigen Knopf am Uhrboden. Bei jedem Druck ertönt ein Piepton. Er liest die Zeit von seiner Armbanduhr ab, wasserdicht bis neun Atü, und drückt weiter. Mit gesenktem Kopf sagt er: »Kommt ein Jungpionier mit einer Digitaluhr zu einem Vopo. ›Genosse Volkspolizist, ich kann die Uhr nicht lesen. Können Sie mir helfen?‹ – ›Nu freilich‹, sagt der Vopo. ›Lass mal sehn.‹ Der Jungpionier hält sein Handgelenk hoch, und der Vopo guckt drauf auf die Uhr. Lange guckt er drauf, die Stirn in Falten. Endlich murmelt er: ›Fuffzehn durch dreiundzwanzig.‹« Mo blickt auf. »›Aber ausrechnen musst du’s dir selber!‹« Er lacht, dieses Lachen von tief drin, und reicht Jakob die Uhr.
Über die Schulter sagt Polina zu Mo: »Frank ist unten. Du könntest ihm helfen.«
»Aye, aye«, sagt Mo. Bevor er geht, kramt er in seinem Mantel herum und zieht ein braunes Etwas daraus hervor, igelgroß.
»Das ist für Sie«, sagt er und präsentiert Polina das Knäuel, als sei es ein Juwel.
»Aber Moritz«, sagt Polina und betrachtet die Kokosnuss. »Ich wollte doch keine Abschiedsgeschenke.«
»Ist gar kein Abschiedsgeschenk«, sagt Mo. »Ist ein Vorgeschmack. Ich habe sie auf großer Fahrt gekapert. Wir machen sie später auf. Da können Sie schon mal kosten, wie die Fremde schmeckt.«
Jakob sagt: »Mo, vielen Dank für die Uhr. Die ist erste Sahne.«
Seit dem frühen Morgen steht Polina am Herd: Sie schmort Rouladen, gefüllt mit Speck, Zwiebeln, Senf und Gurken, so, wie ihre Mutter es sie gelehrt hat. Die Polenta blubbert, und auf der hinteren Herdplatte köchelt die Krautsuppe, der Borschtsch. Dessen Zutaten waren am leichtesten zu bekommen: Weißkohl, Rote Bete, Sellerie, Möhren, Speck, saure Sahne. Im Backofen brät die Gans, mit Beifuß, Äpfeln und Zwiebeln gefüllt und zugenäht an Pürzel und Hals. Kurz nach dem Martinstag war es doppelt schwer gewesen, einen schönen Vogel zu ergattern. Für die Gans musste sie dem Gärtner Mertens drei Päckchen Krönung und den Kilopreis geben. Außerdem musste sie ihm versprechen, dass er im Frühjahr ein paar Canna-Ableger bekommen würde. Niemand außerhalb der Familie weiß Bescheid.
Der Rotkohl ist wiederum kein Problem gewesen. Rot- und Weißkohl gibt es in diesem Land im Überfluss, in dem es sonst an allem mangelt. Sie pellt die äußere Schicht des Kohlkopfs ab, sägt ihn in zwei Hälften, operiert die hellen Strunkhälften heraus und schneidet fingerdicke Krautstücke zu. Ihre Hände sind blaurot. Jakob ist nach unten gegangen, um seinem Vater die Stoppuhr vorzuführen. Sie schält fünf Äpfel und drei Zwiebeln, stückelt sie und wischt sich mit dem Handrücken die Stirn. In einem großen Emaille-Topf zerlässt sie Gänsefett, brät die Zwiebeln an, schüttet das Kraut hinein, es muss etwas angeschmort werden, bevor sie Rotwein und Brühe angießen kann. Später kommen noch Holundergelee (selbst gemacht), der Saft zweier winziger Kuba-Apfelsinen – für ein Netz stand Jakob zwei Stunden Schlange –, Nelken, ein Lorbeerblatt, Salz und weißer Pfeffer hinzu.
Die Gewürze konnte sie vollständig in dem kleinen Laden in der Rathauspassage kaufen. Weil es in dem Geschäft so betörend, so intensiv roch, hatte Jakob einen Niesanfall. Das Kräutlein Niesmitlust. Die zwei Flaschen bulgarischen Weins hat sie im Konsum erstanden. Dafür musste sie den Einheitsverkaufspreis und ein Päckchen Krönung zahlen. Außerdem musste sie der Leiterin des Konsums ein paar Canna-Ableger versprechen, für das Frühjahr.
Alle Herdplatten und der Ofen sind belegt. Der Deckel des Emaille-Topfes klappert, ein feiner Dampfstrahl entweicht dem Ofen. Die verschiedenen Gerüche vermengen sich, es ist warm, die Scheiben sind beschlagen, draußen dunkelt es.
Frank hat ihr einmal vorgeworfen, sie verwende mehr Zärtlichkeit auf den Umgang mit Essen als auf den mit Menschen. Das Essen zubereiten für Menschen mit dem Rücken zu ihnen, so war sie immer bei sich und doch aufgehoben. Wie wird es ihren Jungs ergehen, wie ihren Enkeln? Vor allem Frank und Jakob, die allein zurückbleiben werden in diesem Haus. Aber Frank hat es so gewollt.
Gestern hat er sie beim Packen überrascht. Nur drei Koffer wollte sie mitnehmen, nur
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