Das halbe Haus: Roman (German Edition)
das Nötigste. Doch dann hat sie den Gedanken nicht ertragen, alle Küchengeräte zurückzulassen. Schließlich würde sie auch dort Eier schneiden und Büchsen öffnen müssen, sie würde kochen, wenn auch vorerst für sich allein. So war sie mit der großen Reisetasche in die Küche geschlichen, frühmorgens, und hatte das Nudelholz, den Kartoffelstampfer, die Quirle, den Eierschneider und den Büchsenöffner mit Zeitungspapier umwickelt und in die Tasche getan. Auch Katjas gusseisernen Bräter, der den meisten Platz einnahm. Sie musste an Jakob denken, der vor der ersten Klassenfahrt heimlich seine Stofftiere in den Rucksack gestopft hatte. Und wie Jakob wurde auch sie von Frank auf frischer Tat erwischt. Ob das ihr Ernst sei, hatte er sie gefragt. Sie wollte sagen, dass sie sich genau überlegt habe, was zum Hierbleiben und was zum Mitnehmen sei, dass sie die nötigen Dinge für Frank und Jakob und die nötigen Dinge für sich selbst voneinander geschieden habe. Aber das hatte Frank gar nicht gemeint. Mit seinem Frank-Hochmut hatte er sie gefragt, ob sie wirklich den ganzen ollen Scheiß mitnehmen wolle. Drüben sei alles viel moderner und besser. Da könne sie alles neu kaufen. Er wickelte die Quirle, das Nudelholz, den Kartoffelstampfer, den Eierschneider und den Büchsenöffner aus dem Zeitungspapier und tat alles zurück an seinen Platz. Auch den Bräter.
Katjas Bräter trägt die Prägung einer steirischen Gießerei: ein Phönix in einer Kokarde. Polinas Großmutter hatte ihn zur Aussteuer Katjas gekauft, vom Kesselflicker, der mit scheppernder Stiege auf den Hof gestiefelt kam. Wie bestellt, so hatte Katja es ihrer Tochter erzählt. Denn als der Bräter gekauft war, kam auch schon der Mann, als hätte er den Braten gerochen. Hasen, Fasane, Hühner und immer wieder Gänse sind darin zubereitet worden. Ganz früher, in der alten Heimat, hat Katja die Gänse selbst gebrüht, gerupft und ausgenommen. Die Galle durfte nicht beschädigt werden. Katja und Polinas Tante Rosa haben zusammen gerupft, vorm Martinstag, ihre Unterarme waren voller Daunen, ihre Wangen, ihr Hals. Sie stopften die Daunen in den Jutesack, auf den Daunen haben sie später geschlafen, Katja und Polina, im Gänsebett zu Gänseträumen. Beim Rupfen schneiten die Daunen auf das Tanten- und das Mutterhaar, wehten durch die Scheune, setzten sich auf Polinas geflochtenes Haar. Mit ihrer eigenen Puste hielten Mutter und Rosa eine Daune in der Luft, komm ran, kleine Pola, Linakind, komm ran. Zu dritt bliesen sie die Feder hin und her und lachten, und die Feder sank nicht zu Boden. Ihre Tanten hießen Rosa und Alberta, ihre Schwestern hießen Betty, Martha und Anni. Mit dem ganzen ollen Scheiß hat sie all die Jahre für ihre Familie gekocht. Für ihre drei Söhne. Die heißen Rudolf, Frank und Siegmar.
Für Jakob hat sie einmal einen Stammbaum gezeichnet, weißer Buntstift auf schwarzem Karton, über die letzte Doppelseite des Fotoalbums, das Familienbilder aus vier Generationen enthält. Angefangen hat sie mit Katja (Katharina, geborene Siegenthaler) und Waldemar Sauer, ihren Eltern, die beide zum Ende des letzten Jahrhunderts in Akkerman am Schwarzen Meer zur Welt kamen. Dort wurde auch sie geboren. Ihren Vater sah sie zum ersten Mal als Dreijährige, als er 1917 aus dem Krieg zurückkam, nachdem die Russischen und die Unseren einen Sonderfrieden gemacht hatten. Vier Äste für ihre drei Schwestern und ihren Bruder Arthur, der bekam ein weißes Kreuz neben seinen Namen, ebenso wie ihr Vater. Es gab noch ein paar Kreuze mehr zu verteilen, aber Arthur und Vater waren ihre ersten Toten. Nein, es stimmt nicht, ihre Lieblingsschwester Anni und der Stocker Emil waren ihre ersten Toten. Ihren ersten Mann Horst heiratete Polina 1941, da waren sie längst wieder im Reich, im Jahr 44 erblickte Rudolf das Licht der Welt, wie man so sagt. Was denn mit diesem Horst geschehen sei, hatte Jakob wissen wollen. Der sei doch sein Opa. »Der ist im Krieg gefallen«, hatte sie streng geantwortet. Der Junge hatte nicht weiter gefragt. Unter Rudolfs Namen malte sie aus Versehen eine Lebensrune, wie es damals eben üblich gewesen war. Mit einer Rasierklinge kratzte sie diese aus und ersetzte sie durch einen Stern und Rudolfs Geburtsjahr. Durch zwei ineinandergreifende Kreise, Eheringe darstellend, stellte sie ihm Edelgard zur Seite, deren einziges Kind hieß Marion. Damit war dieser Zweig des Stammbaums fertiggestellt. Sie wandte sich ihrem zweiten Sohn zu: Frank,
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