Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Ecke, hinter der der Besucher verschwindet, der etwas Wirklichkeit ins Haus gebracht hat, was dann gleich ins Tagebuch oder sonst wo hineingeschmiert wird. Schriftsteller sind Schweine.«
»In welch ein Wespennest hab ich denn da gestochen?«
»Ist doch wahr. Alle romantisieren ihn immer, den Schriftsteller.«
»Apropos, Eva: Morgen, das klappt wirklich mit der Besichtigung?«
»Wie oft denn noch: um vier.«
»Komm, ich zeig dir, wo ich als Kind in den Westen geschlüpft bin.«
»Du warst im Westen?«
»Vor dem Mauerbau. Martha und Katja wohnten an der Warschauer Brücke. Als Junge war ich in den Ferien bei ihnen. Sie sind auf die Märkte gefahren, bis nach Potsdam, um Kurzwaren zu verkaufen. Schon als Stift war ich ein begabter Füßlingverkäufer. Die Damen haben geseufzt und mir die Dinger aus der Hand gerissen.«
»Dass du irgendwas zwischen Krämer und Eintänzer bist, das wusste ich ja. Aber dass du Berlin kennst, hast du mir nie gesagt.«
»Beide Seiten. Als ich älter war, hab ich mich vor dem Markt gedrückt und bin heimlich mit der S-Bahn nach Gesundbrunnen gefahren. In den Kneipen habe ich Akkordeon gespielt, bis ich das Geld für eine Kinokarte zusammenhatte. ›Das süße Leben‹ mit Anita Ekberg! Ich konnte nächtelang nicht schlafen.«
»Meine Rede.«
»Ach, komm schon. Die Stadt hat mich immer fasziniert.«
»Und jetzt bist du bald ein Berliner.«
»Erst mal muss ich meinen Ausweis wiederkriegen, eine Arbeit finden und die Zuzugsgenehmigung erhalten.«
»Erst mal musst du deinen Ausreiseantrag zurückziehen, schätze ich.«
»Wieso? Weil ich sonst keine Genehmigung kriege?«
»Frank, was findest du nur an diesem Scheißwesten. Dein Sohn ist hier, ich bin hier. Hast du nicht gehört, was Frau Trunckbrodt gesagt hat? Ohne Familie ist alles nichts.«
»Laufend machst du den Westen madig. Was weißt du überhaupt darüber, Eva? Und du fragst nie, was ich über den Osten weiß. Ich habe dieses Land hier vermessen, und ich kann dir sagen, dass es vergiftet ist.«
»Ich weiß mehr über den Westen als du.«
»Natürlich.«
»Ich war einmal da.«
»Wo warst du.«
»In Kassel.«
»Wie kommst du nach Kassel.«
»Kassel ist die Hölle.«
»Ich fragte, wie du dahin kommst.«
»Wegen meines kleinen Sohns. Wir wollten, dass er wieder gesund wird.«
»Du hast einen Sohn? Wo ist dieser Sohn?«
»Er ist eingeschlafen.«
»Er ist?«
»Er schläft in den Lüften.«
»Eva, warum hast du mir das nie erzählt!«
»Ich habe es dir geschrieben, auf die erste Postkarte. Du hast mich nie gefragt.«
»Ich dachte, du meintest deinen Mann, den du verloren hast.«
»Ich meinte meinen Sohn.«
»Was war mit deinem Sohn.«
»Er ist in Kassel eingeschlafen. Keiner der bedeutenden Westärzte hat ihn heil gemacht. In den Lüften kannte er niemanden, aber jetzt kennt er deine Frau. Ich bin froh, dass er in ihrer Obhut ist. Sie gibt gut auf ihn acht. Ich habe ihr versprochen, dass ich auch auf dich und Jakob achtgeben werde. Dass ich euch glücklich mache.«
»Eva –«
»Er heißt Heinrich. Nicht meine Idee. So ein alter Name für so ein kleines Kind. Aber er ist immer so ernst gewesen wie ein alter Mann. Nach der ersten Operation stand er am Ende eines langen Krankenhausflurs und wartete auf mich. Je näher ich kam, desto kleiner wurde er. Er lächelte nicht, bewegte sich nicht, er sah mich nur an, mein Sohn, der zweijährige Greis. Ich bin so froh, dass Heinrich bei Friederike ist.«
»Das Leben ist zu Ende mit dem Tod.«
»Nein, Frank. Solange wir uns erinnern, ist niemand gestorben.«
»Und warum hast du mir nicht gesagt, dass du schon einmal im Westen warst?«
»Der Westen konnte auch nicht helfen. Der Westen ist ein Parkhaus, ein Kaufhaus. Darin habe ich meinen Sohn verloren. Ich musste zurückgehen, um ihn wiederzufinden.«
»Was war mit Leonore in der Zeit? Haben sie sie als Pfand zurückbehalten?«
»Nein. Sie war dabei. Sie hing sehr an ihrem kleinen Bruder.«
»Aber wie geht das denn, dass sie euch alle rausgelassen haben.«
»Es ist alles meine Schuld. Dabei kann ich doch lesen. Ich hätte ja nur eins und eins zusammenzählen müssen. Denn du hast es mir ja gleich am Anfang geschrieben, wo du am liebsten wärst. Ich schäme mich, dass ich so dumm gewesen bin.«
»Ja, Eva. Du warst gewarnt.«
★
Raum 417 hat keine Fenster. Decke und Wände sind mit Holz verschalt, ein großer, sich verjüngender Tisch nimmt ihn fast zur Gänze ein. Dr. Unger zieht für dich einen Stuhl
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