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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Namen, dein Geburtsdatum, deine Anschrift ein, machst Angaben zu Jakob, Eva und Leonore, zu deiner Mutter und zu deinem Onkel Viktor in Lindau, der gehört ja auch zur Familie. Dann reichst du das Formular an Unger zurück, der sich inzwischen eine Pfeife gestopft und angezündet hat. Er überfliegt die vier Seiten und fragt: »Warum wollen Sie überhaupt ausreisen? Sie haben doch gerade erst eine neue Familie gegründet.« Du bist ganz baff. Eine ganze Weile lang fällt dir keine Antwort ein. Ungers Tabak riecht nach Vanille. Dann sagst du: »Das ist eine lange Geschichte«, obwohl du hättest sagen können: Diese meine Wunde ist durch nichts zu schließen. – »Moment mal«, sagt Dr. Unger jetzt, kräuselt die Nase und zeigt mit dem Mundstück seiner Pfeife auf Leonores Namen. »Das ist Ihre Stieftochter?« – »Ja«, sagst du. – »Das da«, sagt er und tippt auf Devrient, »ist also ihr Nachname? So hieß Ihre Frau mal?« – »Bis sie geschieden wurde«, antwortest du. – »Also heißt der Exmann Ihrer Frau so?« – »Genau.« – Dr. Unger klopft seine Pfeife aus und erhebt sich: »Bitte warten Sie einen Augenblick. Ich hole Sie gleich ab.« Die Fühler der Wanze sind länger als ihre Beine.
    ★
    »Wir haben Glück, dass die Sicht heute so gut ist. Die ganze Stadt liegt uns zu Füßen.«
    »Ja, wir haben Glück. Schau, das da ist der Dom. Seit diesem Jahr ohne Gerüst.«
    »Und dort drüben ist deine Arbeitsstelle, die Uni, nicht wahr?«
    »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.«
    »Von wem ist das?«
    »Das ist von Marx. Steht Gold auf Marmor im Treppenhaus meiner Arbeitsstelle.«
    »Marx ist Murks, und in diesem Satz steckt das ganze Übel.«
    »Weißt du, in den Kastanien hinter dem Dom lassen sich im Herbst die Stare nieder. Das ist ein Lärm, das solltest du mal erleben. Manchmal sitze ich in meinem Büro unterm Dach, und auf einmal ist das Licht weg. Als würde jemand ein dunkles Tuch über den First ziehen. Das sind die Stare, die darüber hinwegrauschen und die Kastanien ansteuern. Ein Schwarm von schwarzen Jahren. Auf dem Nachhauseweg höre ich sie dann in den Bäumen, noch bevor ich sie sehe. Aber ich geh nicht unter ihnen durch, es ist scheißgefährlich. Sie sind zu Hunderten! – Warum lachst du?«
    »Schnatterinchen.«
    »Ich habe sonst niemanden zum Reden.«
    »Wirf mal einen Blick in den Westen. Die roten Flecken, das sind ihre Tennisplätze, die blauen ihre Swimmingpools.«
    »Und das Graue dort, das sind ihre Trabantenstädte. Da wohnen jene, die die Bälle aufsammeln und die Pools putzen.«
    »Ja, das Theater des Westens. Es gibt die ganze Bandbreite. Aber alle haben die gleichen Chancen.«
    »Träum weiter. Der Westen hat eine eigene Grammatik, er kann unverbrüchliche Worte steigern. Zum Beispiel das Adverb ›gleich‹. Außerdem gibt es nichts Einsameres als einen Swimmingpool im Winter.«
    »Ist das da nicht die Siegessäule?«
    »Du willst nicht mitdenken.«
    »Dostoprimetschatelnosti. Ist es nicht erbärmlich, wie wenig vom jahrelangen Russischunterricht bleibt.«
    »Ich kann noch Russisch.«
    »Ich kann nur noch sagen, wo und wann ich geboren wurde. Und ich weiß, was Laubhütte auf Russisch heißt. Denn Lenin hat sich in Rasliw in einer Laubhütte versteckt, f schalaschje. So einen Mist haben sie uns eingetrichtert. Mit einem leibhaftigen Russen habe ich nie sprechen können.«
    »Ich hatte mal einen Brieffreund in Omsk.«
    »Soso, einen Brieffreund.«
    »Die Siegessäule ist übrigens ein Kriegsdenkmal.«
    »Und der Russenpanzer davor ist ein Friedensdenkmal.«
    »Kann man so sehen.«
    »Kann man eben nicht.«
    »Ja, Frank.«
    »Eva, was ist denn mit dir?«
    »Nüscht.«
    »Ich finde, diese Stadt ist wie ein Roman. Da oben, das ist doch der Knast von Moabit, wo Franz Biberkopf einsaß.«
    »Er saß im Tegeler Gefängnis.«
    »Echt? Seine Strafe aber begann mit seiner Freilassung, das weiß ich genau.«
    »Es ist doch immer nur ausgedacht und zusammengereimt.«
    »Du gräbst dir und deinem Fach gerade selber das Wasser ab.«
    »Ach, all diese Selbstsüchtigen, diese gekränkten Kinder, die der Welt weismachen wollen, es gehe ihnen um die Allgemeinheit. Es geht ihnen doch immer nur um sich. Muttersöhnchen und eitle Fatzken sind das, die ihre Familien mit Füßen treten und keinen Sinn für Diskretion haben. Die behaupten, was zu erfinden, aber ihre Erfindungsgabe reicht noch nicht mal bis zur nächsten

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