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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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sich nicht, man nimmt Platz. Auf seinem Schreibtisch stehen ein Kristallaschenbecher, ein Holzbänkchen mit vier Pfeifen, eine Tabakdose, ein Kaktus, ein Becher mit Stiften und Pfeifenreinigern, ein Bilderrahmen und ein Wimpel des 1.  FC Nürnberg. Du vermutest eine Ehefrau und zwei wohlgeratene Kinder in dem Bilderrahmen, der Junge wird Fußball spielen. Dr. Unger geht zum Fenster, lässt die beigefarbenen Lamellen aufeinander zulaufen, bis kein Tageslicht mehr in sein Büro fällt, und schaltet die Deckenbeleuchtung ein. Bevor er sich hinter seinen Schreibtisch setzt, deutet er auf ein Plakat neben der Tür, auf dem ein graugrünes Insekt abgebildet ist. Er hebt die Augenbrauen und sagt durch die Nase: »Was können wir für Sie tun?« – »Mein Name ist –«, hebst du an. – »Ja«, sagt Dr. Unger und zeigt wieder auf das Insekt. Das Krabbeltier hat sechs Beine, einen kleinen Kopf mit langen Fühlern und einen dreieckigen Unterleib. – »Es ist so«, sagst du, »dass ich vor sieben Jahren zum ersten Mal einen Ausreiseantrag gestellt habe und seitdem wieder und wieder. Aber immer wird mein Anliegen abgewiesen, und nun weiß ich mir keinen anderen Rat, als mich an Sie zu wenden.« – Dr. Unger hat die Ellenbogen aufgestützt und sieht seinen Fingern dabei zu, wie diese einen rot-weiß geringelten Pfeifenreiniger verbiegen. – »Meine Mutter«, sagst du, »ist vor einem Jahr in die Bundesrepublik gegangen.« – Dr. Unger hebt den Kopf. »Ist sie legal ausgereist?« – »Ja, sie ist Rentnerin. Wir hoffen nun, dass unsere Familie bald wieder zusammenleben kann«, du zeigst auf den Wimpel, »in Bayern.« – »Wie viele Personen gehören zu Ihrer Familie?« – »Da ist einmal mein Sohn Jakob, er ist gerade dreizehn geworden.« – »Ja«, sagt der Mann und winkt wieder in Richtung des Insekts. Du machst dir wirklich nichts aus Insekten, du kannst nicht mal einen Mistkäfer von einem Maikäfer unterscheiden. – »Sind es noch weitere Personen?«, fragt Unger. – Du sagst: »Meine Frau.« – »Die Mutter Ihres Sohnes?« – »Nein, seine Mutter ist tot.« – »Mein Beileid«, sagt der Mann. – »Er war noch ganz klein und hat gar keine Erinnerungen«, sagst du. – »Das tut mir leid«, sagt Dr. Unger. – »Jedenfalls wird seit Jahr und Tag jeder Antrag abgelehnt«, fährst du fort, denn du bist ja hier nicht beim Pfarrer. »Ich habe an den Rat der Stadt geschrieben, den Rat des Stadtbezirks, an Honecker, Stoph und Sindermann. Nichts. Ich habe fast den Verdacht, dass ich aus irgendwelchen speziellen Gründen festgehalten werde.« – »Sind Strafverfahren gegen Sie anhängig?«, fragt Dr. Unger. – »Nein«, sagst du. »Ich arbeite in der chemischen Industrie, und da habe ich eben ein bestimmtes Wissen …« Unger stiert auf das Insekt und dann auf dich. Womöglich macht er keinen Unterschied zwischen euch. Plötzlich pfeift er eine Melodie und fragt dich, ob du das Lied kennst. Die Melodie kommt dir irgendwie bekannt vor, aber ein Text will dir dazu nicht einfallen. Du zuckst mit den Schultern, und Dr. Unger pfeift die springende Tonfolge noch einmal. Er kann schön pfeifen durch den Ring seiner Lippen. Weil du noch immer nicht draufkommst, singt er dir die Anfangstakte vor: »Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine –« Schön singen kann er auch und starrt wieder das Insekt an. So also sieht eine Wanze aus. – »Tja«, sagt Dr. Unger, »da gibt es im Grunde genommen wenig, was wir von dieser Stelle aus für Sie tun können. Der Wunsch nach Familienzusammenführung erhöht natürlich die Ausreisechancen. Vor allem müssen Sie sich an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen in Bonn wenden«, sagt er und kramt in der Schublade seines Schreibtischs. – »Das haben wir doch längst«, sagst du etwas ungehalten. »Meine Mutter hat an Franke geschrieben und jetzt auch schon an Barzel. Sie war bei Krethi und Plethi und wird auch nur vertröstet. Ich weiß ja nicht«, sagst du, »vielleicht hat Kohl gar kein Interesse an uns, den anderen Deutschen. Wir können ihn ja auch nicht wählen.« – »Die Bundesregierung wird sich wie eh und je für Sie verwenden«, sagt Dr. Unger, »da gibt es keine andere Haltung.« Aus der Schublade zieht er ein Formular, das er dir reicht. »Wenn Sie das bitte gründlich studieren und ausfüllen möchten.« Ein gut leserlicher Hinweis warnt davor, den Fragebogen in die DDR zu versenden oder mitzunehmen. Du trägst deinen

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