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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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ergänzen, bei ihnen ist ja noch reichlich Platz für Entwicklung. Doch nach den Winterferien verschwinden die Wandzeitungen und Fräulein Eichhorn. Falk sagt, sie habe einen Braten in der Röhre, zubereitet von einem Lehrer der 8. Polytechnischen Oberschule Hedda Zinner, also ihrer Schule. Das mit den Träumen, denkt Jakob, das hätte man vielleicht noch aufschreiben können. Und auch zur weiblichen Brust ist, im Gegensatz zur Menstruation, zu wenig gesagt worden.
    »Ja-kob!«
    Ein Herr wühlt im Damenschrank herum. Dort, wo früher Vaters Holzschrank stand, nimmt ein hohes weißes Möbel die ganze Breite der Wand ein. Hinter fünf Türen werden Evas Kleider aufbewahrt, hinter zweien Leos, alle Türen stehen offen, und der Herr zerrt ein Kleidungsstück nach dem anderen heraus: die von Jenny Posner geschneiderten Unikate, die Capes, Gürtel, Schals und den sibirischen Fuchs. Er befingert alles, fasst in Hosentaschen, wendet Jacken, wirft jedes Stück zu Boden, der Kleiderberg wächst und erdrückt den Fuchs, bunte Tücher und Strumpfhosen segeln auf Leos Bett. Es ziemt sich nicht. Entweder ist der Herr kein Herr, oder die Damen sind keine Damen. Jakob steht im Flur und beobachtet mit einem Auge den Herrn. Mit dem anderen beobachtet er den anderen Herrn, der nebenan in Vaters Zimmer auf dem Teppich kniet und Fotoalben, Aktenordner und Schnellhefter aus der Schrankwand nimmt. Ein-, zweimal blättert er durch ihr Leben, Brocken, Sandau, Friedhof, Cap Arkona, dann stülpt er das Album um, schüttelt es, aber es fällt kein loses Bild oder Blatt heraus. Also wirft er das Album in die Mitte des Raums, die Jakob nicht einsehen kann. Dann nimmt er einen dicken Ordner zur Hand, über dessen Rand Malpapiere und farbige Kartons ragen. Es sind Jakobs Zeichnungen und Klebearbeiten von der Kinderkrippe bis jetzt, die der Vater jeweils mit einer Altersangabe versehen und abgeheftet hat: Jakob, 9 J., Picasso mit fünf, Mein Jakob im Alter von drei. Die ersten Bilder zeigen grimmige Sonnen mit dürren Strahlen, es folgen Schneemänner, Sonnenblumen und Panzer in Tupftechnik, dann Vogel-Aquarelle, Ernteszenen im Kartoffeldruck, Stillleben, Munchs Schrei als Linolschnitt, am Schluss Selbstporträts mit viel Deckweiß im Auge. Es ist peinlich. Dürers Hase fehlt. Der Herr im Nebenzimmer schöpft perlmuttfarbene Unterwäsche aus dem Schrank und legt sein Gesicht hinein. Noch peinlicher. Er findet einen Flakon mit Zerstäuber, sprüht den Duft ins Zimmer und riecht ihm nach. Dann wirft er den Flakon weg, und der Glaswürfel poltert über den Boden. Der andere Herr kniet nun nicht mehr, er hat sich auf den Teppich gesetzt und blättert in einem Magazin mit nackschen Weibern. Er faltet das Poster in der Heftmitte auf und streicht es glatt. Miss November ist blond und braun. Ihr Haar fängt das Licht, das andere Haar verschluckt es. Sie sehen sich lange an, Miss November und der Herr. Sie haben keine Zukunft, denn Miss November lebt weit weg: Weizen, Weide, Wald, das Land eher flach, anders als sie selbst – das ist Wisconsin, da ist sie geboren. Ihre Mutter fragt noch, ob es denn unbedingt Vegas sein muss, und dann steht sie schon drin, mitten im Leben. Heute verdient sie ihr Geld als Model. Außerdem hilft sie einem Freund beim Verkauf von Trucks. Jakob weiß genau, was der Herr jetzt denkt, denn er hat es selber gedacht: unbestimmter Artikel oder Possessivpronomen? Ein Freund oder mein Freund? Er müsste nach Vegas fahren und das Frollein auf Herz und Nieren prüfen, der gekrümmt auf dem Teppich hockende Herr, der Miss November soeben aus der Heftmitte reißt, zusammenfaltet und in seiner Jacke verschwinden lässt. Er bleibt auf dem Teppich, weil er vermutlich ML hat und nicht aufstehen kann.
    »Ja-kob!«
    Auch der andere Herr hat seine Jacke anbehalten. Deren Bund rutscht nach oben und entblößt einen haarigen Steiß, als er Leos Matratze, die mal Jakobs war, hochstemmt. Auf der blaugesteppten Unterseite kann man die Ländereien von Dero königlich-bettnässender Hoheit bestaunen, von Jakob dem Ersten, der vergessen hat, dass er einmal nah am Wasser gebaut hatte, oben wie unten, und sich jetzt wieder dafür schämen muss. Schon als kleines Kind hat er sich geschämt, wenn er in einem feuchten Bett aufwachte, wie ihm jetzt einfällt. Er versteckte die Schlafhose, legte ein Handtuch zwischen Laken und Matratze und hoffte bei kaltem Unterleib, dass es niemand entdecken würde. Einmal verriet ihn die Großmutter, ansonsten blieb es in

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