Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Vater noch einmal zu ihm gekommen und hat sich auf die Kante seines Bettes gesetzt. Er hat gleichmäßig geatmet und sich schlafend gestellt. Sein Vater hat nach Rauch, Marbert Man, Schnaps und Leder gerochen. Mit dem Handrücken hat er ihm über die Wange gestrichen und ist ihm mit den Fingern durchs Haar gefahren. Es ist zwecklos, hat der Vater gesagt, ich weiß, dass du wach bist. Er hat die Augen aufgeschlagen und den Vater nicht nur gerochen, sondern allmählich auch gesehen. Gehst du noch weg?, hat er, das Kind, der Junge, der junge Mann gefragt. – Ja, hat der Vater geantwortet. – Zu Pfeiffer? – Ja, zu Pfeiffer. Es stimmt, der Vater und dieser Pfeiffer sehen sich fast jeden Tag. Den ganzen letzten Samstag war Pfeiffer hier gewesen. Den Vormittag haben sie sich in Vaters Zimmer verschanzt, das nun auch Evas Zimmer ist, und Eva hat gekocht. Zusammen mit Pfeiffers blasser Frau Karola und Pfeiffers blasser Tochter Jana haben sie zu Mittag gegessen, dann haben sie einen Spaziergang gemacht. Pfeiffer und der Vater sind vorneweg spaziert, sie haben Pläne geschmiedet, sie haben mit den Armen gerudert, sie waren weit vorneweg mit ihren Plänen. Nachmittags haben sie den Fernseher eingeschaltet, um den Ausgang der Wahl zu verfolgen. Der Vater ist aufs Dach gestiegen und hat die Antenne nach Westen gebogen. Ist völlig unscharf, hat Pfeiffer zu ihm gesagt, zu Franks Jungen. Flitz mal hoch und sag’s ihm, hat Pfeiffer gesagt, aber Franks Junge ist nicht geflitzt. Er ist in die Küche gegangen, wo die Pfeiffer-Damen den Abwasch machten, während Eva rauchte und in einem Buch las. Im E-Werk arbeitete sie als Sekretärin, denn einer muss ja für das Brot und die Milch sorgen. Abends und am Wochenende promovierte sie. Sie durfte keinen Nagel in die Wand schlagen. Promovieren macht auch blass. Am Küchentisch hat Franks Junge an seine Großmutter geschrieben. »Liebe Omi«, schrieb er, »danke für die Bravo, Inge hat sie vorbeigebracht. Meine Zensuren«, schrieb er, »sind ganz okey, guter Durchschnitt, würde ich mal sagen, im Einzelnen wird dich das nicht interessieren. Eigentlich habe ich mich kaum verschlechtert, und wenn, dann liegt’s am Alter. Das wenigstens sagt Papa, von dem ich dich wie immer schön grüßen soll. Er sitzt vor dem Fernseher und verfolgt ganz gespannt die Wahlen drüben bei dir. Sport mache ich keinen mehr. Der Trainer bettelt zwar, aber ich habe irgendwie keinen Bock. Theo haben wir letzte Woche entmannen lassen, weil doch bald das Frühjahr kommt und wir nicht wieder so einen Zinnober erleben wollen wie im letzten Jahr. Jetzt jubelt Papas Kumpel wegen der Wahl, und ich soll dir schreiben, dass du den Bräter schon mal in den Ofen stellen sollst, denn es wird nun ganz schnell gehen, und Papi hat Hunger auf sein Leibgericht (Kohlrouladen, soll ich schreiben, also schreibe ich es dir). Hast du auch den Kohl gewählt? Schöne Grüße, dein Jakob.« Später, am Abend, hat Pfeiffer noch mehr gejubelt, der Wodka hat ihm dabei geholfen, auch beim Singen: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt, hat er gesungen. Da lag Franks Junge schon im Bett, schlaflos wie jetzt. Aber morgen fährst du mich zur Christenlehre, sagt er zum Vater, der noch immer auf der Bettkante sitzt, jedoch den Reißverschluss seiner Lederjacke zugezogen hat. – Pionierehrenwort, sagt der Vater, und nach einer kurzen Pause sagt er ohne Ironie: Die man liebt, mit denen streitet man. Zumindest ich. Mit deiner Mutter habe ich auch gestritten. Noch einmal streichelt er seine Wange. Willst du mich irgendetwas fragen? Er will schon den Kopf schütteln, doch da wird ihm klar, dass das feige ist. Nicht nur der Vater ist feige gewesen in all den Jahren, er selbst war es auch. Also fragt er: Wie hat meine Mutter gerochen?
»Ja-kob!«
Der Angler legt das Opernglas in den Fangkorb. Wer wohnt oben?, fragt er. Jakob schweigt. Sie wohnen oben, sagt der Typ namens Dempner und steigt die Treppe hoch. Was mach ich denn jetzt?, denkt Jakob. Bleibe ich hier unten bei dem Oberleutnant, der Vaters Bücher durchblättert, oder folge ich diesem Dempner, der mich gesiezt hat? Der wird doch nichts von mir beschlagnahmen, und hallo, wieso beschlagnahmen die überhaupt etwas von Vater, ist das wirklich Recht und Gesetz? Oben öffnet der Typ namens Dempner die quietschende Tür. Er ist der erste Erwachsene, der mich gesiezt hat, denkt Jakob. Sicher glaubt der, dass ich Vaters Komplize oder so bin. Und es stimmt ja, wir waren doch
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