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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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gemeinsam an der Grenze, was ich mir nicht ausgesucht habe, dass das mal klar ist, ich wusste ja gar nicht, wohin die Reise geht. Aber ich war mit. Ich habe es nie jemandem erzählt. Vater ist es mal rausgerutscht, am Abend, bevor Großmutter in den Westen umgezogen ist. Ich habe dichtgehalten, und wenn mich einer von den Typen fragt, und die fragen mich bestimmt, werde ich einfach lügen, denn Lügner darf man belügen, mit zweitem Gesicht. Aber ein zweites Gesicht zu haben ist anstrengend. Warum muss ich ein zweites Gesicht haben. Warum muss ich alles abwägen. Warum steh ich immer nur dabei, gucke immer zu und belausche andere. Warum sage ich Falk nicht, dass er Mist redet, warum sage ich meinem Vater nicht, dass er Mist macht. Er gibt sich einen Ruck und folgt dem Typen namens Dempner. Der geht durch sein halbdunkles Zimmer, schaut nach links, rechts, oben, unten und fällt dann vor dem Bett auf die Knie. Mit einer Taschenlampe leuchtet er unters Bett. Unter dem Schottenrock, denkt Jakob, ist gar nichts, und unter dem Bett ist auch nichts, außer dem Feuerwerk seiner Ergüsse, das auf den ochsenblutfarbenen Dielen weiterblüht. Angefangen hat alles mit Lady Chatterley, denkt er, aber muss ich mich schämen vor einem Typen, der Schlüpper klaut? Der Schlüpferdieb lässt den Strahl seiner Taschenlampe in alle Ecken des Zimmers fallen. Der Strahl wandert über Urkunden, Medaillen, Bravo-Poster, den Lok-Wimpel und das kleine Regal, auf dem das Fotoalbum liegt und die Matrjoschka mit seinen Milchzähnen steht. Kühn oder Baum, fragt der Typ, wer is nu der beste Lokscher? Er legt die Taschenlampe ab und greift etwas aus dem Regal. Ist das Ihror?, fragt er. Es dauert einen Moment, bis Jakob den Stempelkasten erkennt. Oder isses den Vati seiner? Jakob denkt und denkt. Lügner darf man belügen, aber wohin führt eine Lüge? Der Stempelkasten, das ist mein Eigentum, denkt er, meine Sache. Eine Sache von mir hat doch nichts mit der Sache von Vater zu tun. Oder stimmt das gar nicht? Haben alle Sachen, die sich in unserem Haus befinden, etwas mit Vaters Sache zu tun? Wenn das so ist, dann können sie auch meine Sachen beschlagnahmen, und dann komme ich in den Knast. Sie werden mich doch nicht in den Knast stecken? Und wie komme ich überhaupt auf Knast? Und was genau bedeutet Komplize noch mal? Nu, sagt der Typ, dann isses wohl den Vati seiner. – Nein!, ruft Jakob, ist meiner, mein Stempelkasten. – Trotzdem muss ich den jetzt konfitz-, trotzdem muss ich den jetzt beschlagnahmen. Er legt den Stempelkasten auf das Bett, in dem Jakob so gern liegen geblieben wäre. Scheiße, denkt er, Scheiße, Scheiße! Er nimmt die Beine in die Hand und rennt aus dem Zimmer. Er springt die Treppe hinunter, er war mal ein guter Hürdenläufer, Erde und Erde und Erde UND Luft, er landet im ersten Stock und springt weiter in Vaters Zimmer. Doch es ist zu spät: Zwischen Büchern, Ordnern, Zeitungen, Opernglas und Playboy liegt schon die Karte im Fangkorb. Die Lehrer haben recht: Er ist nicht nur ein Einzelkind, ein Bruder Leichtfuß, ein Faulpelz, er ist vor allem ein Hans Guckindieluft und ein Esel, der sich selbst immer zuerst nennt. Wäre es anders, wäre er ein ordentlicher, aufmerksamer und anteilnehmender Mensch, dann wäre er nicht mit dem anderen Typen nach oben gegangen, um auf seine Sachen aufzupassen. Dann wäre er unten geblieben, hätte kapiert, wonach der Oberleutnant sucht, und hätte verhindert, dass er es findet. Wenn er seine sechs Sinne beisammen gehabt hätte, dann hätte er die Landkarte rechtzeitig verschwinden lassen, worin der Vater ihren Weg, ihr Versteck und den Durchschlupf des Rehs markiert hat. Solch ein Fehler darf mir nicht noch einmal passieren, denkt er. Angestrengt überlegt er, welche Funde den Vater sonst noch in Schwierigkeiten bringen könnten, aber in seiner Brust tritt ein Pferd, und in seinen Ohren brandet ein Meer. Bin ich jetzt völlig meschugge? Dann endlich kapiert er – Scheiße, Scheiße, Scheiße! –, worauf es jetzt ankommt: Ich muss ihn warnen! Ich muss meinen Vater warnen!
    »Ja-kob!«
    Zur Einschulung bekam Jakob von seiner Großmutter einen Stempelkasten geschenkt. Der Stempelkasten Famos enthielt Gummilettern, Holzmatrizen und ein Stempelkissen. Ein ganzes Blatt Papier bedruckte Jakob mit dem Wort Baum. Papier wird ja aus Bäumen gemacht, seine waren blau. Er stempelte das Wort Oma und das Wort Papa. Er stempelte alle Namen, die er kannte, Jaspa, Falg. Sie alle waren blau. Sein

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