Das halbe Haus: Roman (German Edition)
jener Ja-kob im Bett liegt. Dreizehn Haare hat er inzwischen am Sack und dank ML ein Zelt errichtet, das er schleunigst abbauen muss, wenn er sich nicht blamieren will. Eigentlich steht ML für Marxismus-Leninismus. Jakob und Falk haben sich die beiden Buchstaben ausgeliehen, um unverfänglich darüber reden zu können. Bei den Großen haben sie sich das abgehört, die auch etwas sagen und etwas anderes meinen. Wofür steht RGW ? Wofür EVP ? Hinter jeder Abkürzung versteckt sich ein Witz. Hattest du heute schon ML ?, fragt Falk auf dem Schulhof. Weil bald Frühling ist, üben die Vögel wie blöd. – Ja, in der nullten Stunde, grinst Jakob. Er steht auf einem Pausenstein, Hände in den Hosentaschen. – Aber wir haben noch gar kein ML , sagt Kerstin, die als einziges Mädchen auch auf einem Stein stehen darf. – Du nicht, wir schon, sagt Falk. – Ist fakultativ, sagt Jakob, nullte Stunde. – Klaro, sagt Kerstin, und Maulwürfe spielen Mau-Mau.
»Ja-kob!«
Die Tür fliegt auf, und jetzt fängt der unabwendbare Tag an. Hoch atmend steht Leo im Raum, in Wollsocken und Nachthemd, Haare wie der Pumuckl. Beidhändig hält sie die Strickjacke mit der Filethäkelpasse zu. Scheiße, bist du taub? Schnell dreht er das ML -Zelt zur Seite. Warum schreist du denn so. – Du musst sofort kommen!, schreit sie weiter. – Wieso denn? – Wir haben Herrenbesuch! – Was denn für Herren? – Vier Herren von der Straße! – Von der Straße? – Und zwei Damen von nebenan! – Von nebenan? – Quatsch mir nicht alles nach, und komm endlich!, schreit sie. – Hör mal auf, so zu bläken! Wegen ML kann er noch nicht aufstehen. Wieso hat Vater die überhaupt reingelassen?, fragt er, um Zeit zu gewinnen. – Mutter hat sie reingelassen!, schreit Leo. Und: Dein Vater ist gar nicht nach Hause gekommen. Im Handumdrehen knickt das ML -Zelt ein. Das M steht in Wahrheit für Morgen und das L für Latte. Es ist Sonntag, der 13. März, 9 Uhr 33. Jetzt kann Jakob Friedrich aus dem Bett steigen. Besser gesagt: Er muss.
»Ja-kob!«
Seit er nicht mehr trainiert, pennt er bis in die Puppen. Seine Muskeln wachen gar nicht mehr auf, seine Arme schlenkern am Körper, und die Knie tun ihm seit Neuestem weh. Sein großer Zeh ist nicht mehr der längste, er gehört jetzt zu den Menschen, denen nicht zu trauen ist. Über Nacht wird ein weiches Haar auf seiner Oberlippe zu einem borstigen, und die Haut, durch die sich das Haar gebohrt hat, entzündet sich. Auch seine Nasenspitze und seine Vorhaut entzünden sich einfach so, na ja, und in seiner Ohrmuschel nistet ein Mitesser, der das Ohr zum Glühen und dann zum Platzen bringt. Schon zweimal hatte er eine eitrige Beule auf dem Kinn und musste sich von seinem Vater einen Stipps Penatencreme draufmachen lassen, wie ein Mädchen. Er kennt seinen Körper nicht mehr, der plötzlich ML hat, auch in Staatsbürgerkunde, der schwillt und juckt. Er zieht die blaue Trainingsjacke von der KJS über, die er einfach behalten hat, und folgt Leo. Im Linoleum sind die Schnittwunden zu sehen, die seine Schlittschuhe hinterlassen haben. Im ersten Stock hockt Theo und späht, umringt von seinem Schwanz, durch die Treppenpfosten nach unten. Vier gescheitelte Herren stehen vor Eva, und Elvira Voss und Gundula Meister füllen den Rahmen der Flurtür aus. Eva trägt einen blauen Kimono mit fauchendem Drachen. Darunter ist sie nackt, weil sie so schläft. Sie stemmt die Hände in die Hüften und sieht aus wie eine schöne Meißner Vase mit zwei Henkeln. Sie ist barfuß. Ich, sagt sie laut und fest, verwehre Ihnen den Zutritt zu meinem Haus. Mein Mann kommt jeden Moment heim, und dann wird er Sie des Hauses verweisen. Mein Haus, mein Heim, denkt Jakob, der hier nicht erst seit drei Monaten, sondern schon immer lebt, und auch mein Vater, den er sein Leben lang kennt.
»Ja-kob!«
Einer der gescheitelten Herren holt ein Formular hervor. Der Bezirksstaatsanwalt hat angeordnet, dass die Wohnräume Ihres Mannes durchsucht werden, um beweiskräftige Gegenstände und Unterlagen sicherzustellen. – Was meinen Sie mit beweiskräftigen Gegenständen und Unterlagen?, fragt Eva. Lose Haare zerteilen ihr Gesicht. – Das missense Ihren Mann frogen, sagt Elvira Voss, die Frau des ABV , in breitem Dialekt. Man würde ihr drei Kinder zurechnen, aber sie ist bloß fett. – Sie werden die Organe nicht an der Ausübung ihres Auftrages behindern, sagt der Mann, der Sandalen trägt, das werden Sie nicht. – Nu
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