Das halbe Haus: Roman (German Edition)
meinen Vater, denkt Jakob. Denn wir wollen euch drei mit auf Probefahrt nehmen, sagt Falk und seilt das Jo-Jo wieder ab. Unser Messeonkel hat einen neuen Monza in Metallic, drei Liter, 180 PS, von null auf hundert in acht Sekunden. Du bist so ein Kind, denkt Jakob, der heute zum ersten Mal gesiezt worden ist. Pass mal auf, sagt er zu Falk, ich muss kurz weg. Leonore und Eva kommen jeden Augenblick von der Kirche zurück. Sie haben sich angehübscht, du kannst sie dann gleich zur Probefahrt einladen, okey? Und wenn mein Vater vorher nach Hause kommt, dann musst du es hinkriegen, dass der gleich weiterfährt, kapiert? Der hätte nämlich was dagegen, dass die beiden mit dir Probefahrt machen. Ich an deiner Stelle würde mir was einfallen lassen, dass der gleich weiterfährt. – Oberübelst, sagt Falk. Er fängt das Jo-Jo ein. Und euer Besuch ist die ganze Zeit allein im Haus?
»Ja-kob!«
Beim Hexenritt, sagt Meister Kronow, lernt der Springer, sich der tragenden, hebenden Wirkung des Stabes anzuvertrauen und seine Hemmungen zu überwinden. Man hat ein erstes starkes Sprungerlebnis, das sich emotional in hohem Maße auswirkt, sagt Meister Kronow. Nach einem Anlauf von fünf bis sieben Schritten sticht der Springer den Stab in die Sandgrube, springt ab und hängt am gestreckten oberen Arm. Die Beine werden gegrätscht, der Stab wird dazwischengenommen. In dieser Form lässt sich der Springer über die Senkrechte tragen. Als Jakob zum ersten Mal den Hexenritt übt, kommt es ihm vor, als würde ihn ein Riese in die Lüfte schieben. Er jauchzt, und in seinen Armen und Beinen, auch in seinem Kopf, krabbeln Käfer. Grinsend geht er zurück zum Anlauf und stellt sich in die Reihe hinter Kößling, Smoktun und Triebe, die wie er seit gut einer Woche in der Kinder- und Jugendsportschule trainieren. Vormittags und nachmittags trainieren sie, und dazwischen haben sie Unterricht. Sie sind Externe, die zu Hause schlafen dürfen, während die anderen im Internat wohnen. Meister Kronow trainiert sie nicht nur im Stabhochsprung, bei ihm haben sie auch Kunst und Geschichte. Sie zeichnen Dürers Hasen nach, Meister Kronow beugt sich über Jakobs Blatt und sagt: Das habe ich schon mal schlechter gesehen. In Geschichte meldet er sich regelmäßig und nennt die Ursache, den Verlauf und die Wirkung der Oktoberrevolution. Nach dem Hexenritt trainieren sie den Stabweitsprung, in den dusteren Hallen der Deutschen Hochschule für Körperkultur. Der Stabweitsprung mit halber Drehung enthält bereits wichtige Elemente des Stabhochsprungs. Neben dem Einstich und Absprung werden hier das seitliche Vorbeischwingen der Beine, der Armzug und die Drehung entwickelt. Wie Tarzan schwingen sie an einem Tau und müssen ihren Mut, ihre Kraft und ihre Motorik – also ihre Eignung – unter Beweis stellen. Vom höchsten Punkt lassen sie sich in eine mit Schwämmen und Schaumkeilen gefüllte Grube fallen. Wie Amphibien versinken sie darin und tauchen wieder auf, Fallen will auch gekonnt sein. An Ringen sollen sie ihre turnerischen Fähigkeiten verbessern, denn Stabhochsprung ist die komplizierteste Disziplin der Leichtathletik, die neben Sprint-, Sprung- und Schwungfähigkeiten auch das Stemmen, die Streckung und Drehung aus der L-Position verlangt. Sie üben den flüchtigen Handstand aus der Rolle rückwärts, um die Überquerung der Latte zu simulieren. Dann dürfen sie zum ersten Mal auf die richtige Sprunganlage. Sie pudern ihre Hände mit Magnesia, klatschen sich Staub zu und greifen den Glasfiberstab auf der richtigen Höhe. Später erst werden sie das Harz benutzen dürfen. Warum soll man einem Stabhochspringer nie die Hand geben? Weil er einen nicht wieder loslässt. Als Jakob dran ist, ruft Meister Kronow: Friedrich, komm mal rüber. Er lässt den Stab sinken und legt ihn abseits. Wenn man den Stab einfach fallen oder so rumliegen lässt, dass jemand mit seinen Spikes drauftritt, kann sich ein Haarriss bilden, und nun stell dir mal vor, er bricht, wenn du in drei, vier Metern Höhe bist. Jakob trabt zu seinem neuen Trainer. Dieser reicht ihm ein Plasteröhrchen und sagt: Geh mal aufs Klo und mach da eine Stuhlprobe rein. Bei Kronow ist immer das Klo im Spiel, denkt Jakob, vom Klo aus hat er ihn belauscht, auf dem Klo gibt es die Vitamintabletten, aber egal. Am laufenden Band haben sie sportärztliche Untersuchungen, und er füllt das undurchsichtige Röhrchen mithilfe eines Plastelöffelchens. Auf dem Röhrchen steht schon sein Name. Als er
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