Das halbe Haus: Roman (German Edition)
blauer Opa Rischart, der in jenem Altweibersommer noch lebte, lachte rasselnd und nannte ihn seinen kleinen Kaffeesaggsen. Jakob solle mal sagen, Regen werden wir kriegen, er sagte es, und Richard behauptete, es habe wie Regenwürmer kriechen geklungen. Richard führte vor, wie es hochdeutsch und wie es bei Jakob klinge, aber der Junge hörte keinen Unterschied heraus. Ein halbes Jahr später konnte der Junge besser reden und stempeln, aber Richard, der Kuchen-Opa Richard, hatte sich schon auf den Friedhof verkrümelt. Es war nun niemand mehr am Leben, der mit seiner Mutter verwandt war, außer ihm. So beschloss sein Vater, die eingemotteten Kleider seiner Frau zu verkaufen. Friederike hatte ihre Kleider selbst genäht, sie hatte die Stoffe gefärbt, hatte Bettwäsche und alte Mäntel zu eleganten Kleidern umgearbeitet. Sie war berühmt gewesen für ihren guten Geschmack. Vor bald sechs Jahren war Flämmchen verbrannt worden, aber ihr guter Geschmack war noch in aller Munde. Nach ihrem Tod hatte Polina die Kleider in Baumwollsäcken verstaut, hatte Rainfarn und Kampfer hineingelegt und die Säcke vernäht. Weiß und stumm hingen sie all die Jahre in einer Hälfte des Schranks. Friederike stand auf jedem Sack, als befinde sich darin je eine Mutter. Nie hatte Jakob sich getraut, eine Naht zu öffnen, um wenigstens eine Friederike zu befreien. Bevor man sie aber verkaufen könne, die Kleider der Mutter, müsse man Reklame machen, hatte der Vater gesagt. Jakob solle ihm helfen, den Verkauf anzukündigen, und seinen Stempelkasten zum Drucken von Plakaten holen. Jakob brachte den Kasten und der Vater Leim, eine Malerrolle und ein Holzbrett. Darauf klebten sie spiegelverkehrt den Plakattext. Der Vater tränkte die Rolle mit Tinte, fuhr damit über die Lettern, und Jakob stempelte mehr als zwanzig Plakate für die Nachbarschaft: % Achtung ! Am 2. 4. um 17.oo + Bei Friedrich § Fetzige Kleider ? Werden verkauft – Solange der Vorrat reicht & Regenstr 27 =. Er hängte sie im Kindergarten und vor der Schule auf, in der nach Pisse stinkenden Telefonzelle, an der Litfaßsäule (Lok gegen Chemie), am Konsum, am Apelstein Nr. 34, an der Bretterwand der Gärtnerei (schlau, denn Frauen kaufen Blumen) und in der Johannaburg (dumm, da hocken fast nur Männer und rufen: Grand Ouvert!, Wer schreibt, der bleibt!). Wegen des berühmten guten Geschmacks seiner Mutter konnten sie sich am 2. April 1977, es war ein Samstag, vor Interessentinnen kaum retten. Unter vielen anderen kamen Gundula Meister von nebenan, Cora und Elvira Voss. Gute Reklame, sagte der Vater. Die Frauen warteten in der Küche und im Wohnzimmer, die Räume wollten bersten vor Frauen. Zum Glück hatte die Großmutter Dienst. Der Vater kam mit den Kleidersäcken, legte sie auf den Couchtisch und schnitt den ersten auf. Natürlich waren nur Kleider darin, und die rochen nach sechs Jahren Kampfer. Die Frauen gingen auf den Sack los und zogen die Kleider heraus. Die Kleider waren sehr schön, und jede Frau nahm sich ein schönes Stück von seiner Mutter. Die Frauen, die zu kurz gekommen waren, rissen die anderen Säcke auf. Bitte, drängeln Sie nicht, es gibt mehr Kleider als Körper, sagte der Vater. Es gab aber auch mehr Körper als Kleider, denn Friederike Friedrich war eine schlanke Frau mit langem Rücken und langen Beinen gewesen. Die Frauen hielten sich die Kleider an und sahen prüfend an sich hinab. Sie schüttelten den Kopf, stiegen in ein Kleid, ohne den Reißverschluss schließen zu können, und kauften trotzdem. Fuffzehn Mark? Oder das Doppelte? Der Vater verhandelte nicht. Er nahm, was man ihm gab. Elvira Voss kaufte drei, vier Kleider zum Spottpreis, Gundula Meister und Cora kauften auch, alle kauften. Nur ein Brokatkleid rückte der Vater nicht heraus, es war das Ballkleid seiner glänzenden Erinnerung. Am Schluss war alles verteilt, bis auf das Brokatkleid und einen knappen Tennisrock aus Frottee. Nehmen Sie ihn einfach mit, sagte der Vater zu Elvira Voss, die auch den Tennisrock mitnahm und zum Schuheputzen verwenden wollte. Als Einzige fragte die hübsche Sonderschullehrerin, die danach noch ein paarmal zu Besuch kam, wem all die wunderbaren Kleider gehört hätten. Seiner Frau, sagten Elvira Voss und Cora aus einem Mund. Als alle weg waren, ging Jakob auf sein Zimmer und pulte die Gummilettern vom Stempelbrett. Er löste die Worte und die Sätze auf, entfernte die Leimreste und sortierte die Buchstaben zurück in den Stempelkasten Famos, damit sie
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