Das halbe Haus: Roman (German Edition)
später zu neuen Worten und Sätzen zusammengefügt werden konnten. Zum Beispiel könnte er sich Worte ausdenken, die völlig in der Luft hingen, denen nichts entsprach und die es trotzdem auf den Punkt brachten. Habseligkeiten wäre so ein Wort, oder Verewigen. Doch die Buchstaben waren begrenzt, allein für Habseligkeiten würden schon drei kleine e draufgehen. Weit kam man also nicht mit dem Stempelkasten Famos. Nach einiger Zeit klopfte der Vater und brachte ihm seinen Anteil vom Verkauf. Es waren rund dreihundert Mark. Deine Mutter hatte einen guten Geschmack, sagte er bloß, aber das war ja längst bewiesen. Von dem Geld kaufte sich Jakob ein Schwert, eine alte Voigtländer, einen kleinen getigerten Kater, den er Theo nannte, und ein Briefmarkenalbum. Durch seine Großmutter ließ er alle Sondermarken und Bogen der Deutschen Post der DDR beschaffen. Ein Bogen vom Vorjahr war den Olympischen Spielen und dem Zentralstadion gewidmet, obwohl die Olympischen Spiele in Australien stattfanden, wo Waldemar Cierpinski den Marathon gewann. Der Sommer kam, Jakob wurde vom Trainer gesichtet, und die geschmackvollen Kleider seiner Mutter spazierten durch die Straßen, an Frauen in Atemnot.
»Ja-kob!«
Ich flehe dich an, sagt Eva. Geh zur Telefonzelle und ruf Jasper an. Er soll kommen, ich pack das nicht allein. – Aber ich gehe hier nicht weg, sagt Jakob. Er steht auf dem Bürgersteig. Vor der Einfahrt parkt ein Lada mit vier Scheinwerfern. Dessen Kennzeichen lautet S 4 – 14. Eva hat Tränen in den Augen. Sie trägt noch immer den Kimono, aber darunter eine Strumpfhose und ein Hemd des Vaters. Sie hat ihr Haar zusammengefasst und einen Bleistift hindurchgesteckt. Die lackierten Zehen stecken in Vaters Gartenbotten. Damit stiefelt sie zurück ins Haus, stapp-stapp-stapp. Es tut ihm leid, aber er kann hier nicht weg. Er muss den Vater warnen. Er hat schon einen dicken Fehler gemacht, jetzt will er nicht noch einen machen. Sobald er das Röhren des Škodas hört, diesen einzigartigen Sound, der sich einem Sportauspuff Marke Eigenbau verdankt, will er auf die Straße treten und den Vater durchwinken. Rasch will er auf den Lada zeigen, vier Finger in die Luft recken, die stehen für die Anzahl der Typen in ihrem Haus und die der Lada-Scheinwerfer, mit der anderen Hand will er eine Wink- oder Schwimmbewegung machen, wie er sie vom Trainer kennt. Der Vater würde ihn verstehen und die Biege machen. Jakob steht auf dem Bürgersteig, in der Birke über ihm tratschen zwei Amseln, die keine Angst mehr vor dem entmannten Kater haben. Er kann nicht zur Telefonzelle gehen und Jasper anrufen, es tut ihm sehr leid.
»Ja-kob!«
Um die Ecke biegt Falk. Er seilt ein blinkendes Etwas ab, ruckt an der Schnur und lässt es hinaufklettern zur ausgestreckten Hand. Er pfeift, er ist völlig losgelöst von der Erde, wie das Raumschiff von Major Tom. Seine Turnschuhe sind brandneu. Er stellt sich neben Jakob und sieht mit Wohlgefallen dem Auf und Ab der leuchtenden Scheibe zu, und er pfeift. Nach einer Weile sagt er: Willst du auch mal? – Kein’ Bock, sagt Jakob. – Ist aber übelst, sagt Falk. – Seh ich ja, sagt Jakob. – Wenn ich schneller mach, dann ändert sich die Farbe, sagt Falk, hier. – Ja. – Echt übelst, oder? – Ja, übelst. – Habt ihr Besuch?, fragt Falk und glotzt kurz auf den Lada. – Ja. – Wir haben auch Besuch. Schau, sagt er, hebt sein Bein und lässt den blauen Puma-Turnschuh mit dem weißen Schwung kreisen. Messeonkel, sagt er. Jakob schweigt. Mit Klettverschluss, sagt Falk, voll übelst. Er senkt das Jo-Jo ab, ruckt, und grün blinkend wandert es wieder nach oben. Machst’n hier eigentlich? – Warten, sagt Jakob. – Auf deine Schwester?, fragt Falk und dreht den Kopf zur Seite. – Ist nicht meine Schwester, sagt Jakob. – Oh, ’tschuldigung, sagt Falk, wusste ja nicht, dass du verknallt bist. – Jakob sagt: Nonsens. Das sagt sein Vater auch ab und zu. – Na ja, ich kann’s ja verstehen, sagt Falk. Ich habe noch nie so eine schöne Frau an unserer Schule gesehen. Jakob will sagen, dass Leo noch gar keine Frau ist, aber Falk ergänzt: Nur deine neue Mutti, die ist noch schöner. – Wie oft denn noch: Das ist nicht meine Mutter, sagt Jakob. – Klar, sowieso, sagt Falk. Dann sagt er: Verfickte Kacke. Das Jo-Jo baumelt am Ende der Schnur und schafft es nicht mehr nach oben. Falk wickelt es auf. Ist die wenigstens zu Hause, deine Nicht-Mutter?, fragt er. Alle sind zu Hause, bis auf
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