Das halbe Haus: Roman (German Edition)
zurück in die Halle kommt, setzt er sich neben Meister Kronow auf die lange Bank. Er legt das Röhrchen zwischen sich und ihn, und beide schauen sie den Stabhochsprung-Frischlingen dabei zu, wie sie sich abmühen. Smoktun buckelt über die aufgelegte Höhe, ohne an die Drehung zu denken, Kößling verpasst den Einstich, und Triebe zertrümmert fast die Latte. Meister Kronow und Jakob lachen gemeinsam. – Ist ein langer Weg, sagt Kronow kopfschüttelnd. – Ich mach dann mal wieder mit, sagt Jakob, der dem Meister beweisen will, dass er es besser kann. Die Urkunden für die Frischlingstaufe liegen schon parat, drüben auf dem Lederrücken des Sprungpferdes. Auf den vorgedruckten Linien stehen Smoktuns, Kößlings, Triebes Namen. – Lass mal, sagt der Meister zu Jakob Friedrich, dessen Urkunde fehlt.
»Ja-kob!«
Er geht vorbei an den Garagen, an der alten Eiche, am 1900-Kilopond-Schlosserkran. Er geht seines Weges, tritt auf die Fugen zwischen den Steinplatten, aber das ist jetzt scheißegal. Das Land ist noch ganz grau, nur die Weiden bringen ein wenig Gelb hinein. Der Vater kommt meist vom Anfang der Straße angefahren, nicht vom Ende her. Sein Junge lauscht und geht ihm entgegen. Wo der Vater nur bleibt? Vielleicht ist der Škoda liegen geblieben. In der Telefonzelle muss er die Luft anhalten, so sehr stinkt es darin nach Pisse. Er wählt Jaspers Nummer. Als Cora sich meldet, bläst er die Luft aus und atmet rasch durch die Nase ein, das ist weniger eklig als durch den Mund. Kann ich mal Jasper haben?, sagt er. – Wer ist denn da?, fragt Cora. – Ich bin’s, Jakob. – Worum geht’s denn? – Kann ich mal bitte Jasper haben? – Er ist in der Werkstatt. – Holst du ihn? Es knistert in der Leitung. Während er auf Jasper wartet, studiert er den Handzettel, der neben dem grauen Telefonkasten klebt. Der Zettel hat die Größe eines halben Blatts und ist bedruckt mit fünf blauen Zeilen. In der ersten Zeile steht: Frieden schaffen – Reisen machen! In der zweiten Zeile steht: DDR -Bürger! In der dritten, vierten und fünften der restliche Text. Jakob, was gibt’s?, meldet sich Jasper. – Ja, hallo, sagt er. Ich soll dich anrufen. Wir haben nämlich Besuch. – Wer hat gesagt, dass du mich anrufen sollst? – Eva. – Was ist das für Besuch? – Herrenbesuch. – Sag ihr, dass ich in zehn Minuten da bin. Bevor er die stinkende Telefonzelle verlässt, kratzt er den angeleimten Handzettel von der Zellenwand. Seine Atmung ist ihm egal. Fetzenweise reißt er den Zettel ab, fetzenweise frisst er ihn auf.
»Ja-kob!«
In diesen Tagen sagt sie meistens ja und selten nein. Ihre Laune ist aus dem Keller ins Dach geklettert. Sie hat sich schön gemacht. Sie ist weltgewandt, parliert, zeigt ihre guten Manieren und trägt auf, was sie ein halbes Jahr lang in ihren Kammern gehortet hat. Sie ist gnädig gestimmt, heller, sie hat nämlich ein Rendezvous. So sieht sie darüber hinweg, wenn Jungs, die noch keine vierzehn sind, an der Philipp-Rosenthal-Straße durch den Zaun schlüpfen und sich auf das Messegelände stehlen. Ein bisschen zürnt sie wohl, wenn die Jungs den Sowjetischen Pavillon meiden und die sozialistischen Landmaschinen, ein bisschen schämt sie sich, wenn sie an den bundesdeutschen Ständen nach Offkläbern und Diedn betteln, nach Guhlis ooch. Aber sie vergibt leichter in diesen Tagen. Sie weiß, dass sie ihren Schützlingen nicht immer alles bieten kann, der Alltag ist grau und rau. Sie hat ein Rendezvous, und die Ihren sollen auch ein wenig Spaß an der Freude haben. Selbst dem älteren Herrn mit Baskenmütze wird sie keine Schwierigkeiten bereiten. Soll er ruhig am Xerox-Stand seine Weltkriegsfotos kopieren. Das Kopieren ist eine Unsitte des Westens, bei ihr zu Hause ist alles nur einmal da, bis auf die zwei Rathäuser und die zwei Bachkirchen. Dieser Tage lässt sie den Herrgott einen guten Mann sein, dieser Tage schlägt ihr Herz hoch im Dekolleté, dieser Tage genehmigt sie sich schon mittags einen Kirsch im Café Corso am Neumarkt, einen Plausch und einen Plunder. Sie wird nach dem Weg gefragt, in fremden Sprachen, zum Brühl geht es da und dort entlang, de rien, au revoir. Wie gut, dass ihr Vater, der Kantor, der Musikdirektor, der Großmaler darauf geachtet hat, dass sie mindestens Französisch lernt. Ein beleuchteter Globus stand in ihrer Kinderstube, der guten. Sie kann einen Zitrön von einem Porsche unterscheiden und findet den Zitrön scharmanter. Da man sie kennt und ein
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