Das halbe Haus: Roman (German Edition)
»Berliner Operation«. Sie umgingen die Stadt, ließen sie links und rechts liegen, kesselten Halbe ein und marschierten auf die Reichshauptstadt zu.
Der Himmel war unverschämt blau, die Butterblumen leuchteten gelb am Rand der Krater, und oben glitzerten die Silberfischchen. Man hörte das Insektensurren einzelner Flieger, das Summen der Kampfverbände, sah das Stanniolblitzen ganzer Geschwader, die Richtung Westen flogen. Hier und da vernahm man das schütternde Krachen ferner Bombeneinschläge. Die Bomber kümmerten sich nicht mehr um die Stadt, die Artillerie und die Infanterie der nachrückenden Truppe schafften das allein.
Katja, ihre Töchter samt Rudolf, Martin und Liesl zogen wieder in den Keller, in dem es nach Marzipan und Fäulnis stank. Rudolf und Martin schrien, weil die Wein- und Obstvorräte aufgebraucht waren, Singen und Wiegen halfen nichts, und niemand hatte den Nerv zu stricken. Katja streute wieder Stroh, holte Stühle, Decken und die letzten Kartoffeln. Sie riss Handtücher in Streifen, die sich jeder vor Mund und Nase band. Martin und Rudolf wurden im Gesicht gewindelt.
Weil die paar Volkssturm-Greise und -Jünglinge, unter ihnen Tati, dem Schwung und der Überzahl der Russen nichts entgegenzusetzen hatten, räumten sie am 20. April den Gubener Brückenkopf. Während Pioniere die Fluss- und die Eisenbahnbrücken sprengten, ging Tati durch den Geschoss- und Kugelhagel nach Hause. Mit der Linken schulterte er die Panzerfaust, die Rechte trug er in der Manteltasche.
Indes feierte der Führer seinen 56. Geburtstag, sie waren gleich alt, Tati und der Führer. Allerdings feierte der Führer nur ein bisschen, ihm war nicht recht nach Feiern zumute. Mit den sonst so großartigen Geburtstagsüberraschungen war es in diesem Jahr auch nicht weit her. Dass Nürnberg, die Stadt der Parteitage, in amerikanischer Hand war, dürfte keine besondere Überraschung für den Führer gewesen sein. Dass die Russen noch dreißig Kilometer vor Berlin standen und es nicht rechtzeitig zur Feier im kleinsten Kreis schafften, wohl schon eher. Goebbels hielt eine weinerliche Rede. »Unser Unglück hat uns reif, aber nicht charakterlos gemacht«, munkelte er. »Deutschland ist immer noch das Land der Treue. Sie soll in der Gefahr ihren schönsten Triumph feiern. Niemals wird die Geschichte über diese Zeit berichten können, dass ein Volk seinen Führer oder dass ein Führer sein Volk verließ. Das aber ist der Sieg.« Auch die verbündeten Japaner sprachen vom Siegen durch Nachgeben, aber nur im Judo.
Liesl sagte durch den Mundschutz, sie sei in den Turnverein eingetreten, weil Viktor gern geturnt habe, sie sei in den BDM eingetreten, weil man gemusst habe, und die Feste und Fahrten hätten ihr immer viel Freude gemacht. Betty sagte, sie sei kegeln gegangen, weil ihr Verlobter es gern getan habe, auch seinen politischen Überschwang habe sie sich zu eigen gemacht. So tue man das doch, als Frau, als Nicht-Hiesige. Ganz richtig sei es wohl nicht gewesen, aber bestimmt keine böse Absicht, ganz bestimmt nicht. Tati, der soeben nach Hause kam, könne das bezeugen. Nicht wahr, Tati?
Aber Tati wollte nichts sagen zum Probelauf in Reue und Selbstgerechtigkeit. Er ließ die Panzerfaust sinken. Katja zog den Stoff vom Mund und sagte: »Wärst du bloß nicht gegangen raus.« Immer noch trug Tati seine Hand in der Tasche, und plötzlich wusste Polina, was die Worte auf den Ruinen ihr hatten zeigen wollen: Der Krieg benutzte die Gliedmaßen, die Faust, die Schulter, die Hand, er benutzte sie in den Worten und in der Wirklichkeit.
Ein Granatsplitter hatte Tati die rechte Hand aus dem Gelenk geschlagen. »Mir ist so weh«, sagte er, »so kalt. Und solch ein Durst wütet in mir drin.« Er zeigte seinen Armstumpf her und holte mit der Linken die abgetrennte rechte Hand aus der Manteltasche, sie steckte im Handschuh. Liesl legte ihre Hand vor den Mund, Martha kippte ins Stroh.
Wohin tat man eine lose Hand? Die Hand war so leicht. Als sie sich auf den Scheitel gelegt hatte, als sie geschlagen hatte, als sie dem Kleinvieh den Hals umgedreht und einen Wassertrieb vom Obstbaum gesägt hatte, war sie so stark, so schwer gewesen. Polina tat die Hand in den Rumtopf und den Deckel oben drauf.
Tati sagte, ihm tue die rechte Hand weh, so weh. Polina sagte, er habe sie verloren, habe sie selbst soeben hochgehalten. Ach, sagte Tati, sie solle sie finden, seine gute Hand. Sie sei hier, sagte Polina. Sie solle sie holen, sagte Tati, er
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