Das halbe Haus: Roman (German Edition)
den nicht für sie bestimmten Brief abgegeben. Eine hohe Mauer umfasste das Anwesen, auf dem Messingschild stand nur »A. S.«. Mit einem Summen war die Pforte aufgesprungen, und über einen langen gepflasterten Weg war sie auf das hohe Haus mit den vielen Gauben zugegangen. Neben der Tür standen auf tönernen Füßen zwei Buchskugeln, auf Höhe ihres Kopfes hing eine getöpferte Eins, darunter ein ebensolches Namensschild. In von Kinderhand gelegten Schlingen stand darauf, dass hier Heike, Stefan, Anton und Marianne Sartorius wohnen würden, zusammen mit dem Glück, wie ein Kleeblatt und ein Hufeisen betonten. Abermals klingelte sie, und eine Frau mit Kropf öffnete. Die Frau sah sie aus kleinen Augen an. Umständlich erläuterte sie, wie sie das Kuvert aufgerissen, dass sie nicht auf den Empfänger geachtet habe und sich nicht erklären könne, wie der Brief in ihren Kasten geraten sei. Schweigend nahm die Frau den Brief an und schloss den Flügel. Irgendwo hatte sie diese Frau schon mal gesehen, ihr ist entfallen, wo. Ihr Gedächtnis ist eine Sanduhr, die keiner umdreht. Markisen in verschossenem Orange sind vor die Fenster des Sanatoriums gespannt. Aus einem Kofferradio schunkelt ein Lied, das sie mag. Roger Whittaker singt mit seinem Bariton: »Wenn es dich noch gibt, sag, wo ich dich finde. Ich muss dich wiedersehn, suche dich überall.« Dann wird das Lied von einem Brüllen, einem Schlagen und Sirren übertönt. Bei solch einem Höllenlärm setzt ein Herz, das ohnehin schon schwach und nicht auf der Hut ist, für ein paar Schläge aus. »Ah, die Organspender rasen wieder, es ist Frühling«, ruft Hermann. Sein Haar flattert. Auf dem großen weißen H neben dem Parkplatz landet ein Rettungshubschrauber. Die Büsche neigen sich, Sand steigt auf, und sie rennt los.
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»Wärst du bloß nicht gegangen raus«, sagte Katja. Sie meinte Polina und nicht Martha.
Der Kalmücke stand in der Tür, das Käppi in der Hand, den breiten Kopf gesenkt. Am Schluss, nach all der Schande, hatten seine Kameraden Liesls und Bettys Finger in den Mund genommen, um Ehe- und Verlobungsring abziehen zu können, mit Spucke und Zähnen. Betty wusch sich den ganzen Tag, und Liesl sagte, wenn sie jetzt nicht bald Post aus dem Feld bekäme, dann tue sie sich wirklich etwas an, doch das Schicksal ließ sich nicht erpressen.
Mäuser, ein früherer Kollege Tatis, Färbermeister und Kommunist, kam vorbei und sagte, jetzt würde eine neue Gesellschaft aufgebaut werden, nach dem Vorbild der Sowjetunion. Eine neue Verwaltung würde man einrichten, es würde Kleiderkarten, Lebensmittelkarten, Wohnraumzuteilung und eine gute medizinische Versorgung geben, antifaschistische Jugendausschüsse, antifaschistische Kulturkreise, antifaschistische Betriebe und Schulen würden ins Leben gerufen werden. Alle seien eingeladen, am Neubeginn mitzuwirken, der gemeine Mann habe von den Sowjets nichts zu befürchten. Es gebe hier keinen gemeinen Mann, sagte Katja, nur Frauen und zwei tote Männer, und ob denn schon ein antifaschistischer Friedhof ins Leben gerufen worden sei. Was eigentlich, fragte Mäuser, aus ihrem Arthur geworden sei, solche Kerle benötige man jetzt für den Wiederaufbau. Falls ihr Hilfe braucht, ihr wisst ja, und guten Tag noch. – Heil Hitler, sagte Martha und schlug sich die Hand vor den Mund.
Die gute medizinische Versorgung ließ auf sich warten, und an die frische Luft wollte Liesl mit ihrem Sohn um keinen Preis gehen. So legte Polina den blassen Rudolf und den gelben Martin in ihren Kinderwagen, Lederriemchen und Gummireifen, und machte sich auf den Weg zur GPU -Kommandantur. »Mina« stand in kyrillischer Schrift auf vielen Schildern, alle Orts- und Hinweisschilder waren nun zweisprachig. Sie blickte so entschlossen drein, dass sich ihr niemand näherte. Dem groß gewachsenen Hauptmann zeigte sie das gelbe Kind. Im Vergleich zu dem blassen Jungen könne er ersehen, was mit diesem Kind nicht stimme. Er, sagte der Hauptmann, kenne sich aus mit Kindern und werde veranlassen, dass beide im Lazarett behandelt würden. Auch für sie werde er einen Platz beschaffen. Das sei in Wahrheit nicht nötig, sagte Polina und schlug die Augen nieder, doch falls er von zwei Plätzen auf einem Friedhof wisse. Der Hauptmann sah sie erschrocken an und sagte, die Kinder würden es schaffen. Es sei nicht für die Kinder, sagte Polina.
Im Lazarett bekam Rudolf Farbe, und Martin bekam noch mehr Farbe. Er schaffte es nicht. Als sei dies nicht genug,
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