Das halbe Haus: Roman (German Edition)
kleine Mädchen, keine sieben Jahre alt, liegen da wie zwei schlafende Püppchen, ganz süß. Ein paar Meter weiter sitzt ein Junge an einer Litfaßsäule, den ungeküssten Mund voll Staub. Irgendwo in der Ukraine sitzt genau so ein Junge mit genau so einem Mund an genau so einer Litfaßsäule. Schwere Aufgaben, über die sich schlecht sprechen lässt. An einer rauchenden Ruine steht ein Mädel mit Zöpfen: Wenn das mal nicht unsere Martha ist. Das hier, spricht unsere Martha zu sich selbst, das war mein Bruder. Aber Mädel, antwortet Martha, das kann doch kein Mensch sein, geschweige denn ein junger Mann. Das da ist ein verkohlter Hund, so schwarz und klein und gekrümmt, wie er dort liegt, und nur sein Rückgrat leuchtet weiß. Er war so ein starker Kerl, erwidert Martha, die Unbelehrbare, doch immer, immer Streit mit Tati. Und einen harten Schädel hatte der, es war manches Mal zum Haareraufen. Martha zeigt sich, wie das Haareraufen geht. Aber die Opfer, sagt Martha, sind nicht umsonst erbracht worden. Wir haben heldenhaft gekämpft, die Unseren haben die Roten in Schach gehalten und werden es weiter tun, so lange Atem in ihnen ist. Nun kommt ein Windchen auf, und dem Schäfer, oder was auch immer das für einer ist, fliegt der Hut vom Kopf. Doch weil es, wie recht lange schon, mehr Hüte als Köpfe gibt, bückt er sich und greift einfach einen der herumliegenden. Zu Ostern feiern wir die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus. Er war tot, doch sehet, er ist lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit, dass wir nicht lachen, und hält die Schlüssel der Hölle und des Todes in der Hand, das nun ist sicher wie das Amen in der Kirche. Ein schwarzes Lamm stakst von Soldat zu Soldat und stöbert nach Tabak. Der Stadt- und Hauptpfarrkirche fehlen Dach und Glas. Durch die hohen Fensterbögen fliegen die Krähen, Aas im Schnabel. Am Altar feiern sie ihre Messe, auch wenn die Orgel aus den Fugen geraten ist. Ob Barock oder Renaissance, alle Häuser am Markt sind verheert, auch jenes, das die Firma Friedrich & Söhne beherbergt hat. Schweiß und Fleiß sind aufgezehrt, das Rathaus ist zerhauen. Auf dem Sims sitzen die Worte und schauen von oben herab. Sie bemerken einen, auch wenn man glaubt, unsichtbar zu sein. Es sind die Worte Standgericht, Schuhwerk, Fahnenjunker. Die Worte Handgranate, Schulterstück, Panzerfaust. Wie Perverse im Königspark lauern sie einem auf und zeigen, was sie darunter tragen. Sie zwingen einen zum Hinsehen, als erwarteten sie irgendetwas. Schnell weiter, dem Mann im Lodenmantel nach, der über die Achenbachbrücke geht und einen noch immer nicht bemerken will. Unten bummelt der Fluss, das Theater ist völlig unversehrt geblieben, die ganze Westseite hat es weniger hart getroffen. Auch das Haus, in dem die Wohnung der kleinen Familie Friedrich liegt, ist nahezu unbeschädigt. Im Eingang steht eine junge Frau, hinter sich einen Kinderwagen: Wenn das mal nicht unsere Liesl ist. Mit weißer Kreide schreibt sie auf die Ziegelwand: Liesl Friedrich (Kuhn) ausgebombt. Jetzt bei Vogel in Ludwigstr. Darunter steht, ebenfalls mit weißer Kreide: Bredensteins leben alle. Daneben: Dirksens ebenso. Und: Magda Fenske ist nach Kufstein. Auch Liesl bemerkt einen nicht. Wenn einen keiner bemerkt, dann ist man wohl schon tot. Liesl schwatzt mit dem alten Nachbarn aus dem dritten. Der sagt: Ich traue der Ruhe nicht, die Sowjets führen etwas im Schilde. – Die Russen, sagt Liesl, sollen den Amerikanern den Krieg erklärt haben. Der Roosevelt ist tot, jetzt wendet sich unser Schicksal noch einmal. – Bitte nicht mehr albern sein, sagt der Nachbar, bitte. – Wenn ich nicht bald Post aus dem Feld bekomme, sagt Liesl, werd ich noch verrückt. Im Kinderwagen schreit der gelbe Martin. Ihr Sohn sollte öfter an die frische Luft, sagt der Nachbar. Da lacht die Liesl, wie irre. Nur ganz langsam beruhigt sie sich. Dann sagt sie mit Grabesstimme: Und warum ist Polina nicht zu Hause? Wo ist sie bloß? Man könnte sich nun bemerkbar machen und der Liesl dreimal auf die Schulter tippen. Man könnte in den dritten Stock gehen und die Wohnung öffnen öffnen öffnen. Man könnte drei schamlose Worte fangen: Feldpost, Feinalarm und noch irgendeines. Man könnte dem Mann im Lodenmantel an den Fluss, über den Fluss oder in den Fluss folgen. Denn der Fluss, unsere Marne, hat keine Eile. Der Fluss ist nicht so, er tät schon warten. Der Fluss geht zu den Wolken, die Wolken gehen zum Abendlicht, das Abendlicht geht zur Nacht. Hin
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