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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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stand ein Panjewagen mit Maultier. Der Kalmücke setzte sich auf den Kutschbock und sagte: »Dawaj!« Polina war fast einen Kopf größer als ihr Fahrer. Geschickt wich er Schutt und Leichen aus. Ausgebrannte Panzer standen am Straßenrand. Ein Tatare entriss einem Greis ein Fahrrad und fuhr damit gegen einen gesprengten Kübelwagen, es löste zahnlose Heiterkeit bei seinen Kameraden aus. Die Heiterkeit war so groß, dass die Kameraden neben dem Fuhrwerk herliefen und riefen: »Komm in Haus, Gretl. Fick-fick, bite schon.« Ein Soldat sprang auf und kletterte zum Kutschbock. Zum ersten Mal seit zwei Jahren fasste sie ein Mann an, sie sagte, dass sie die Gonorrhö habe. Der Soldat nannte sie eine Hündin und sprang vom Wagen. Das Lachen des Kalmücken machte das Maultier scheu.
    Die Häuser sahen aus wie Puppenstuben, es fehlten die Fassaden, aber die Tische waren noch gedeckt. Nur die Tischdecken hingen auf die Straße. Vergeblich hielt sie nach dem Bismarckturm Ausschau.
    Im Hof des Bataillonsstabs standen zwei Panzer. Mit fliegenden Fingern spielte ein Jüngling Akkordeon. Soldatinnen in langen Röcken saßen auf Ketten und Drehtürmen, in den Rohren steckten Kirschzweige. Von oben konnte man gut auf Deutschland und seine Frauen spucken.
    Beim Stab wusste niemand etwas über Marthas Verbleib. »Gdje dom NKWD ?«, fragte Polina den Kalmücken, und dieser sagte: »Dawaj!«
    Im Quartier der GPU in der Mittelstraße wusste man etwas über Marthas Verbleib. Vier Sterne, das ergibt einen Hauptmann, einen Kapitan. Dem erklärte sie, dass ihre Schwester unschuldig sei, die Panzerfaust dem Vater gehört habe, der Vater gefallen sei und sie die Gonorrhö habe.
    »Dann müssen wir«, sagte der Hauptmann in gepflegtem Deutsch, »Ihre Schwester freilassen und Sie ins Lazarett bringen.«
    ★
    »Nein«, sagt sie. – Ob etwas mit ihrer Familie sei, ihren Söhnen, drüben? – »Nein.« – Ja, was denn dann mit ihr sei? – »Ich bin nur ein bissel frühjahrsmüde«, sagt sie. Was der Oktoberwind nicht geschafft hat, schafft der Aprilwind: Die letzten Blätter fallen. Dann regnet es, dann hört es auf zu regnen, dann regnet es wieder. An den Bäumen springt das Grün an, auf den Verkehrsinseln blühen Tulpen gelb und rot, der Schallschutz an der Umgehungsstraße wird erneuert, die Umgehungsstraße auch. Die Panzer und der Frost haben den Asphalt zerstoßen, nun fräsen große Maschinen den Belag ab. Kipplader schütten dampfenden Teer in die Spur, der von einer trägen Güterlok glatt gezogen wird, dann rollt eine tutende Walze darüber. Arbeiter in gelben Leibchen sehen zu und rauchen, der Verkehr staut sich bis zur Itzbrücke, auch ein Jaguar kommt nicht schneller voran. »Irgendwas ist doch mit dir«, sagt Hermann. »In letzter Zeit bist du so«, er setzt den Blinker und schert aus, »verschlossen.« Im Park bringen die Männer von der Stadtgärtnerei die ausgewaschenen Wege und die ausgeschwemmten Beete in Ordnung. Auch in diesem Frühjahr ist der Fluss wieder über die Ufer getreten, jetzt eilt er trüb dahin, die Enten und die Schwäne trauen sich nicht hinein. Aber die Parks sehen schon wieder manierlich aus. Auf der großen Wiese machen Kurgäste Gymnastik. Durch die Veilchenstraße fährt ein grüner Käfer mit offenem Fenster, aus dem laute Musik weht. Auf der Heckscheibe steht in bunter Schrift: Abi 1983. Wie hat sich das Jahrhundert nur so schnell aufgebraucht? Drüben am Schweizer Haus werden die Fenster gestrichen. Weißt du, wie ein Schweizer Käse gemacht wird? Man nimmt ein Dutzend Löcher und tut den Käse drumherum. Weißt du, wie eine Strohwitwe gemacht wird? Man nimmt einen Klafter Luft und klebt das Stroh dran. Und weißt du, dass eine Dame von Welt nur vom Haarlack, der Schminke und ihrer sauberen Wäsche zusammengehalten werden kann, und sonst ist nichts in ihr drin außer dem Schlaf? Ach, Hermann. Früher hat sich diese Dame am Wechsel der Jahreszeiten erfreut. Sobald es Frühling wurde, erfasste sie ein Übermut, eine Genugtuung, dass es die Welt gab, die Maiglöckchen und einen neuen Anfang. Früher erinnerte sie sich an noch frühere Küsse, an helle Abende, an die Lichterketten in den dunklen Kastanien zur Kirchweih, an ein Duftband aus Flieder. Dieses Band ist zerschnitten, Frühling, das ist ein falscher Fuffzscher. Sie gehen an der Saline, an der Minigolf-Anlage und am Sanatorium Sartorius vorbei. In diesem Fluss kann man weder Barbe noch Zander noch den Hecht sehen. Zu Beginn der Woche hat sie

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