Das halbe Haus: Roman (German Edition)
nicht finden können zur Hochzeit. Die Leute beäugen sie im Lift, weil sie so salopp und in Pantinen vor die Tür geht. Flüchtig grüßt sie die Dackeldame auf dem Weg zu den vierundachtzig Briefkästen. Aus ihrem Fach zieht sie einen Packen Papier: Reklame vom Kupsch und die bunten Beilagen des Itzer Wochenmarkts und des Itzer Boulevards, Wurfblättchen, in denen Zenzi von Rößler, Foto-Video Schaft, der Schuh-Müller und der Sport-Gerlach werben, die Frankonia auch und der Möbel-Anger an der A 9. Wenn die nur alle ihren Namen unterbringen können! Oft ist ein Brief von der Sparkasse dabei, wo sie ein Girokonto hat, manchmal eine Einladung zum Torwandschießen, dem Gewinner winkt ein Wochenende mit dem neuen BMW -Cabrio oder dem wendigen Ford Fiesta. Immer mal wieder beglückwünscht sie die Lottogesellschaft, denn schon jetzt gehört sie zu den Glückspilzen. Am 24. April findet sie endlich ein Kuvert im Kasten, das per Hand beschriftet wurde. Sie steckt das Kuvert in die Manteltasche und fährt klopfenden Herzens nach oben. Noch vor der Wohnungstür reißt sie den Brief auf. Darin steht: »Ach! Dieses Jahr werde ich Ihr nicht wiedersehen und dafür fühle ich schon ein bißchen traurig. Ich war immer so gut empfangen. Ihr wart immer so freundlich mit mir … Aber ich hoffe trotzdem ihr bald wiederzutreffen. Ihr weißt, daß unsere Haus für die ganze Familie (und Freunden) immer frei und ganz höfnen ist. Vielleicht wird ihr einen anderen Aronsson in das Schwimbad treffen. Allerdings, meine zwei Jahre junger Bruder wird den ersten halb Julli bei Plaschek wohnen. Ich glaube, daß er zur Schule gehen wird, und dann wird der Stefi ihn wahrscheinlich treffen (er spielt auch gern tennis …) Letzte Woche hatte ich meinem Abitur … Und Dienstag habe ich den Deutschen Prüfung zu machen. Dann werde ich auf die Ergebnis wachten. In Julli werde ich nach Kapstadt fahren für drei Wochen, wo ich hoffe einen Arbeit zu finden. Nach dies, muß ich zu einen trainingslagern teilnehmen. Nächste Jahr werde ich Sud Frankreich studieren (Aix). Ich habe beschloßen nur Deutsch und Englisch während zwei Jahren zu lernen um weniger Fehler in meine Briefe zu machen. Es ist schlimm: Ich hab das Gefühl, daß ich meine Deutschesprache vergessen habe … Zum Schluß, den letzten Wochenende September werde ich eine sehr große Fest machen, um meinem 18. Geburtstag zu feiern. Ich hoffe natürlich, Stefi, Heike, Karl und auch die Anger zu sehen. Ich werde ihr später eine Einladung schicken. Bitte läßt ihr von ihnen hören … Ihre Sylvain Aronsson!« Auf dem zerrissenen Kuvert steht als Empfänger: »Familie Sartorius, Freiherr-vom-Stein-Weg 1, 8733 Bad Itz, Allemagne«. Das ist oben am Fuß des Bismarckturms, die feinste Wohngegend von Itz, wie gelangt solch ein Brief in ihren Postkasten? Den Namen Sartorius hat sie schon mal gehört. Sie faltet den Brief zusammen und legt ihn zurück ins Kuvert. Das Kuvert legt sie neben das Telefon. Das Telefon ist tot. So wie Tati, Katja, Anni, Betty, Tante Rosa und Arthur.
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Tritt für Tritt knirscht das Glas. Die weißen Pfeile an den Trümmerwänden zeigen an, wo sich die Luftschutzräume befinden. So viele haben es nicht geschafft, trotz Feinalarms. Ein hagerer Mann im Lodenmantel und mit Schlapphut steigt durch den Schutt, geht über die Scherben. Mit seinem Schäferstab berührt er die Stirn eines jeden Toten, die des Hitlerjungen, dessen schmale Brust breit genug für ein Eisernes Kreuz und eine Kugel war. Die des Grenadiers, der die Granate noch in der Hand hält, die des gekränkten Verehrers vom Heimatschutz, der jetzt die Himmelsleiter ganz allein hinaufsteigen muss, alle 138 Stufen, nur hin zu. Bis nach Ostern folge dem Lodenmann, unsichtbar. Eine Mine hat dem Apotheker den Fuß abgeschlagen. Erschlagen wurde der Notar, vielleicht vom Hohn, war er doch Mitglied einer schlagenden Verbindung, als er studierte, drüben am Rhein. Die Wacht am Rhein singt jetzt niemand mehr, der Ami und der Franzmann schiffen über den deutschen Strom, der Tommy verbrennt Hamburg und Dresden, und der Iwan marschiert auf Berlin und hat nur kurz alles dem Erdboden gleichgemacht, damit es hier aussieht wie bei ihm zu Hause. Die Schwerkraft, die hat etwas Anziehendes, aber die Worte sind durchsichtig. Ein Unteroffizier hat seinen Unterschenkel verloren, ein Oberfeldwebel seinen Oberarm und das Bataillon die Schlacht. Auf Französisch ist der Krieg weiblich, la guerre, warum eigentlich. Zwei
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