Das halbe Haus: Roman (German Edition)
schwindet die Zeit, her kommt der Tod, und wer viele Kinder hat, kann eines entbehren. Wer nur ein Kind hat, der geht über den Fluss und sorgt für dieses eine Kind.
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Doktor Sonntag ist gar kein richtiger Doktor, das heißt, er ist wohl ein Arzt, aber er hat keinen Doktortitel, wenigstens steht keiner auf seinem Schild, da steht nur: Eberhard Sonntag, Allgemein- und Badearzt. Dennoch ist Doktor Sonntag beliebt. Er ist braun gebrannt, beschäftigt drei braun gebrannte Praxishilfen, er pflegt zu scherzen, seine Zähne sind so weiß wie seine Polohemden, er läuft Marathon, macht Bergtouren, zeigt sich bei Konzerten mit seiner Frau, die Inkaschmuck oder Lapislazuli trägt, was besonders schön zu blauen Augen und brauner Haut passt. Doktor Sonntag hat die Zeit und das Geld. Er hasst Krankheiten, er sieht seine Patientinnen – mehrheitlich sind es Frauen – lieber außerhalb der Praxis, trotzdem kommen sie bei jedem Zipperlein, und alle nennen ihn Herr Doktor. Zu Ostern kann er sich nicht retten vor Eiern, zu Weihnachten nicht vor Kerzen, es heißt, dass er von so manch betuchter Witwe geerbt hat, und zwar mehr als den beißwütigen Terrier. Und er ist im Lions-Club. Liebes Fräulein Winter, sagt er und blickt Polina tief in die Augen, ich bin untröstlich. – Sind die Werte denn so schlecht?, fragt Polina und zieht ihre Hand zurück. In der anderen hält sie noch immer das Magazin mit dem grünen Umschlag des Lesezirkels, das sie im Wartezimmer gelesen hat, bevor man sie aufrief. – Bewahre, sagt Doktor Sonntag und hebt die Hände, ruki wwerch. Sie haben die besten Werte von all meinen Patientinnen. Ihre Physis ist robust, einfach bewundernswert. – Und warum sind Sie dann besorgt? – Ich sagte untröstlich, und untröstlich bin ich, weil es jetzt keinen Grund mehr gibt, dass wir uns so bald wiedersehen. Der Doktor leckt seine Zähne und nimmt ihre Krankenakte vom Tisch. Mit einem Kugelschreiber von Bayer notiert er etwas und drückt einen Summer. Auf dem Tisch liegen bereits sechs, sieben andere Akten wie Patiencekarten. Die Sprechstundenhilfe holt ihre Krankenakte und legt drei neue auf den Tisch. Hinter dem Doktor hängen selbst gemachte Safarifotos: ein Nashorn im Sonnenuntergang, Doktor Sonntag mit Massai-Schild und -Speer, Frau Doktor Sonntag auf einem Kamel vor einer Pyramide, beide lächeln. An der gegenüberliegenden Wand hängt ein Kalender mit Arztwitzen, daneben großformatige Arztkunst in Ocker. Der silberne Rahmen ist hübsch. Also dann, sagt Doktor Sonntag, der Sonntagsdoktor, strotzen Sie weiterhin so vor Gesundheit. Er greift ihre Hand. Mit dem grün eingebundenen Magazin verlässt sie das Sprechzimmer. Es ist der Stern vom gestrigen Donnerstag. In fetten roten Buchstaben steht auf der Frontseite, verborgen vom grünen Einband: »Hitlers Tagebücher entdeckt.« Sie zieht den Mantel an und lässt das Heft in ihrer Handtasche verschwinden. Als sie die Praxis verlassen will, ruft ihr die blonde Sprechstundenhilfe nach. Ertappt geht Polina zum Tresen, auf dem blühende Kirschzweige stehen. Sie haben Ihre Überweisung vergessen, sagt die Sprechstundenhilfe. – Überweisung?, fragt sie erleichtert und nimmt den kirschblütenfarbenen Zettel entgegen. Darauf stehen in kindlicher Schrift ihr Name, ihre Krankenkasse und die Worte »chronisches Erschöpfungs-Syndrom/Depression«. Gestern lief im ZDF zum ersten Mal Denver Clan: ein Biest und ein Engel im Streit um einen guten Mann. Gute Männer sind rar, und in jeder Frau steckt eine Helle und eine Dunkle. Denver Clan hat ihr viel besser gefallen als Dallas.
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»Wärst du bloß nicht gegangen raus«, sagte Katja zu Polina und kleidete sich schwarz.
Das, was man für Arthur hielt, wurde auf dem Ostfriedhof verscharrt. Jemand setzte ihm ein Katzenkreuz. Liesl sagte, er habe in Berlin mit einer Frau in wilder Ehe gelebt, jemand müsse der Frau Bescheid geben, wenn alles vorbei sei.
Es schien tatsächlich so, als sei alles vorbei. Zu Ostern kehrte eine gespenstische Ruhe ein, eine Tage dauernde große Stille. Katja räumte das Haus auf, fegte die Scherben und das Stroh zusammen, schloss die Fenster mit Pappe und trug alles aus dem Keller nach oben, bis auf den Landser. Sie verschloss die Kellertür. Es sang kein Vogel, und die Bäume, die nicht weggesprengt und zerschossen waren, wappneten sich für die Blüte, auch der Kirschbaum im Garten.
Am 16. April jedoch eröffneten die Armeen der 1. Belorussischen und der 1. Ukrainischen Front die
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