Das halbe Haus: Roman (German Edition)
wolle sich von ihr verabschieden, wolle sie noch einmal schütteln. Sie habe ihm so gute Dienste geleistet, vor allem drüben, in der alten Heimat. Meiner Hände Arbeit. Doch als Polina ihm die Hand geben wollte, war Tati schon verdurstet. Weder von seiner Hand noch von seiner Frau und seinen Töchtern hatte er sich verabschiedet. Polina zog den Handschuh und den Ehering ab. Main Tate is a Schwarewasnik. Sie gab Katja den Ring.
Was ist der stete Tag gegen die Jüngste Nacht, was das Bohnenkraut gegen die Mohnblüte, was ein Boden aus Lehm gegen den Samt- und Sternenhimmel, was, ihr Sterblichen, ist ein Ehebett gegen ein Lager aus Stroh, was?
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Dass der Stern-Reporter Gerd Heidemann achtunddreißig Jahre nach Kriegsende die geheimen Tagebücher Adolf Hitlers fand, ist nichts weniger als eine historische Sensation. Weder SS -General Mohnke, der die Reichskanzlei bis zu Hitlers Tod verteidigte, noch SS -Adjutant Otto Günsche, der die Verbrennung von Hitlers und Eva Brauns Leichen überwachte, wussten von der Existenz der Tagebücher. Gerade mal dreizehn Jahre alt war Gerd Heidemann, als das Dritte Reich in Trümmer fiel. Aus dem zerbombten Hamburg in die Lüneburger Heide evakuiert, drückte sich der Pimpf nach Schulschluss bei der am Dorfrand kampierenden Panzer-Division »Hitlerjugend« herum. Die Siebzehnjährigen von der Waffen- SS brachten dem Kind, das zu ihnen mit glänzenden Augen aufblickte, das Zerlegen von MG s und das Schießen bei. Wenige Monate später sah Heidemann die befreiten abgemagerten Insassen des nahe gelegenen Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Er hörte die Erwachsenen über die Gräuel tuscheln, die dort geschehen waren. Achtunddreißig Jahre danach hält er die intimsten Aufzeichnungen jenes Mannes in Händen, in dessen Namen das alles geschehen war. Am 16. April 1945 notierte dieser: »Die schon erwartete Großoffensive hat begonnen. Stehe uns der Herrgott bei.« Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 besuchte Hitler im ostpreußischen Reservelazarett Carlshof den verwundeten Generalmajor Walther Scherff. Hitler war bei dem Anschlag im Führerhauptquartier nur leicht verletzt worden. Im Tagebuch verspottete er die Verschwörer und warf ihnen Beziehungen zum blaublütigen Offizierskorps vor, das er hasste. Am 26. Juli 1944 skizzierte er, wie er die Bombe platziert hätte. »Wenn die Bombe anders gelegt worden wäre, ihre Wirkung ist nicht auszudenken.« Mit seinen Serien, etwa über den Juwelier von Maidanek, oder dem Vorabdruck der Hitler-Biographie Joachim Fests hat der Stern seit je über die Jahre der Nazi-Tyrannei aufgeklärt und informiert. So auch mit der sensationellen Veröffentlichung der geheimen Hitler-Tagebücher.
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Als Licht in den Keller fiel, war Polina überhaupt nicht unten. Sie war im ersten Stock und schlief.
Nach oben war sie gegangen, um für sich und die Schwestern etwas Schwarzes zu holen. Sie war in ein Kragenkleid von Martha gestiegen und hatte sich an Bettys Schminktisch gesetzt. Sie hatte sich die Läuse aus dem Haar gekämmt, die Augenbrauen nachgezogen, Lippenstift und ein wenig Veilchenduft aufgetragen. Dann hatte sie sich in Bettys Bett gelegt und war eingeschlafen. Sie roch nach Veilchen und Hund, Frauen können nicht so tief graben wie Männer.
Als sie wieder aufwachte, standen Rotarmisten im Garten und rauchten: Männer in Uniformblusen und Pumphosen, Pistolentaschen am Koppel, die eine Zigarette herumreichten. Ein Kalmücke war darunter, breiter Schädel, Schlitzaugen und gelbe Haut. Die Schiffchen saßen so schief auf ihren Köpfen, als seien sie daran festgenietet. Statt Stiefeln trug einer Lappen an den Füßen. Ein anderer sah zu ihr hoch und rief: »Frejlin!« Schnell zog sie den Kopf zurück.
In der Küche saßen Katja, Betty und Liesl mit den beiden Kindern. »Wo bist du bloß gewesen!«, sagte Katja. – »Sie haben Martha mitgenommen«, flüsterte Liesl. – »Die Panzerfaust haben se gefunden, und Martha hat am dämlichsten geguckt«, sagte Katja. – »Wohin mitgenommen?« Die Frauen wussten es nicht, dämlich allesamt. »Haben sie die Gräber entdeckt?« Kopfschütteln.
Im Garten sagte Polina zu den vier Russen: »Gdje schtab palka?« Ebenfalls auf Russisch sagte sie, dass ihre Schwester unschuldig, unschädlich – beswrední – sei. Die Panzerfaust – Faustpatron – habe dem Vater – Otjez – gehört. Der Vater aber sei gefallen, gestorben – umer. Die Soldaten waren beeindruckt und betrunken.
Vor dem Haus
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