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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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und beschloss, jemand anders zu werden.
    Nach einer Woche hatte der Hauptmann sie ausfindig gemacht. Er saß vorn neben Witja, und hinten auf dem Panjewagen standen ein Sauerkrautfass und ein Klavier.
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    Professor Sartorius ist ein echter Professor und ein echter Doktor. Er trägt eine Nickelbrille, ein blaues Häubchen, ein blaues Nicki und blaue Hosen. Der blaue Mundschutz hängt unter seinem Kinn. Der Professor sagt, sie solle sich keine Sorgen machen. Dank der Narkose werde sie nichts spüren. Die Operation werde eine gute Stunde dauern, sei reine Routine. »Wir sind keine Amateure«, lächelt er. Danach müsse sie den Arm ein wenig schonen, entzündungshemmende Mittel einnehmen und recht bald mit der Krankengymnastik beginnen, bereits nach drei Tagen. Wenn Sie fleißig übe, könne sie die volle Beweglichkeit wiederherstellen. Es könne aber dauern, über ein Jahr. Die OP -Schwester schaltet die sieben Sonnen ein und fährt ein Wägelchen ans Bett. Darüber hinaus habe er sich, sagt der Professor, mit ihrem Hausarzt, dem Herrn Sonntag, in Verbindung gesetzt. Nicht nur der Arm, sondern auch ihre Seele brauche im Anschluss so etwas wie Krankengymnastik. »Aber jetzt operieren wir erst einmal.« Später am Tag bekomme sie ein schönes Einzelzimmer, Freund Höß habe sie geupgradet, ein feiner Mensch. Sie kennt dieses Wort nicht: geupgradet. Als sich der Professor die Hände wäscht, fragt sie ihn, ob er den Brief erhalten habe. Interessiert dreht er sich um. »Den Brief?« – »Den Brief mit dem Trainingslager und dem Abitur. In dem steht, dass das Haus für Ihre Familie immer offen steht und ein großes Fest gemacht wird.« – Der Professor zieht den Mundschutz über und sagt dumpf: »Aber natürlich habe ich den Brief erhalten.« Er zwinkert ihr zu. »Danke, dass Sie mir so nett geschrieben haben.«
    ★
    Das E klemmte, aber das störte sie nicht. Wolodja spielte wunderschön. Er kannte alle Stücke auswendig und spielte sich woandershin. Sie nahm er mit. Am Ausklang ihrer Reisen öffnete er die Augen, sie waren blau, und er lachte. Seine Mütze und sein Koppel lagen auf dem lackschwarzen Deckel, sein Lachen war arglos.
    Die Klavierinstrumente, die vor dem Siegeszug des Radios gebaut worden seien, also die aus den zwanziger Jahren, es seien dies die besten Klavierinstrumente, sagte er. Dieses hier sei ein Gläser-Piano, ein guttes Klavierinstrument. Im Konservatorium hätten sie ein Förster- und ein Seiler-Klavierinstrument aus der Kriegszwischenzeit stehen, man wisse nicht, ob sie noch da stünden, und einen gestutzten Flügel von Steinway und einen Konzertflügel von Bechstein aus Berlin habe es auch, nun ja, wohl gegeben.
    Er nahm Mütze und Koppel herunter, öffnete den Deckel und machte sich am klemmenden E zu schaffen. Mit einer Stricknadel zügelte er das Hämmerchen, schlug an und ließ den Ton zur Prüfung antanzen. Er war ein strenger Prüfer. Als er zufrieden war, schloss er den Deckel, warf den Uniformsaum wie die Schöße eines Fracks nach hinten, nahm elegant auf dem Sauerkrautfass Platz und sagte: »Es spielt jetzt für Sie, meine Dame, Waldemar Wolkow aus Sankt Petersburg am Gläser-Klavierinstrument eine deutsche Musik.« Er neigte den Kopf, blitzte Polina an, schloss die Augen, setzte einen Ton, wiederholte den Ton, und dann suchte sich eine einfache Melodie sämtliche Erhabenheit zusammen, die sich unter den Tasten und im Resonanzraum versteckt hielt. Ein taktvoller Bass half der Melodie, und beide, Melodie und Bass, gingen immer selbstbewusster miteinander um, immer gelöster, bis sie in atemberaubendem Einklang alles ausmaßen, den ganzen großen Dom der Welt. Auf schwer fassliche Art wurden die irdischen Ausdrücke, wurden Klage, Jubel und Anmut übertroffen von einer vierten Dimension, der Gnade. Polina weinte und überlegte, wann sie zuletzt geweint hatte. Dieser Wolodja versah sie mit Musik und Güte. Nach dem letzten Ton sagte er bloß mit schönem rollendem R: »Paradies.«
    Martha sang gehässig: »Man müsste Klavier spielen können, wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frau’n.« Entschieden wurde, dass das Klavier in Rudolfs und Polinas Zimmer wohnen sollte. Niemand fragte, wem es vorher gehört hatte. Ein Klavier muss gespielt werden, sonst verliert es seinen Klang, sonst bringt es nur bucklige Töne hervor. Ein Klavier gehört also dem, der es spielt. Wolodja kam jeden Tag, um darauf zu spielen. Für Katja spielte er die Polka, für Martha Operettenweisen, für Rudolf

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