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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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russische und deutsche Kinderlieder, nur für Liesl hatte er keine Musik, Liesl wollte immerzu schlafen. Sie alle trugen Schwarz, das Kind natürlich nicht.
    Für Polina spielte er die Trost- und Gnadenmusik. Es sei genau genommen eine Einschlafmusik, erklärte er. »Vor zweihundert Jahren konnte der russische Gesandte am Hof vom starken August nicht mehr gutt schlafen. Er hatte Sorgen. Da batt er den besten Komponisten aller Zeiten, er lebte in Leipzig, für ihn eine Einschlafmusik zu schreiben. Der Komponist war damals so alt wie Gitler oder dein Papa, als sie just zu Grabe gingen. Dem Komponisten war eine Frau gestorben und kleine Kinder, er hatte viele Kämpfe gekämpft, litt am Augenstar und hatte sein letztes Kind gezeugt, danach kein Kind mehr. Er hat sein ganzes Erdenleben mit dieser Musik« – Wolodja suchte das richtige Wort – »verwunden.« Er sprach ein Deutsch aus den Büchern. »Du Tor« sagte er statt »du Dummkopf«. Es war ein altmodisches, ein lustiges Deutsch. Ein guttes Deutsch war es. »Zum ersten Mal gespielt hat die Musik ein Junge, ein Klavierinstrumentschüler. Die ganze Nacht musste er dem Gesandten das Stück vorspielen. Auch als es dem Gesandten wieder gutt ging, musste er spielen und spielen.« Das Stück sei ein Wunder. Es sei sehr streng gebaut, Geometrie auf dem Notenpapier, und trotzdem sei es frei wie ein Vogel. Der erste Teil bestehe aus sechzehn Sätzen, das seien die sechzehn Stufen der Jakobsleiter, da hinauf führe das Stück in eine andere Welt. Am Tor zu dieser neuen Welt gebe es eine neue Ouvertüre, kraftvoller und mit mehr Bravo gehe es voran, die letzte Variation sei ein toller Freudentanz, ein Kehraus aller Melodien und Muster, dann klingende Stille: Paradies.
    »Die ersten Töne sind leicht, versuche es doch selbst einmal.« Er griff ihre Hände, sie zog sie zurück und stand auf. Er sagte: »Stolz ist ein potemkinsches Dorf.« Er sagte: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gutt.« Er sagte, dass er eine Frau und zwei Mädchen habe.
    Darf man denn trotzdem lieben? Trotz der Frau und der Kinder? Trotz allen Schmutzes, aller Rohheit und Gewalt? Geht das denn, dass ein Herz wieder erweicht, nachdem es so lang auf der Hut und ganz starr gewesen ist? »Ach, was ist das schon, die Liebe. Menschen können töten, Menschen können lieben«, sagte der Lehrer aus dem Dritten, er hieß Spohn. Der Mensch sei irgendwas zwischen Hass und Güte. Er sei Biologie und Geschichte, ein vernunftbegabtes Säugetier, das die Vernunft immer wieder mit Hufen trete, also mehr Biologie als Geschichte. Ein Knäuel aus Eigensinn, Weinerlichkeit, Herdentrieb und Fluchtinstinkt, zur Hälfte Fug und zur anderen Unfug, wohl mehr Unfug als Fug – das sei der Mensch, die Krone der Schöpfung. »Er lebt, zeugt, nennt es Liebe, frisst und säuft, er zerstört, bleibt allein, dann stirbt er allein. Mehr ist zum Menschen nicht zu sagen.« Er sagte es weit weg von den Ohren seiner Frau. Und was ist mit der Liebe, was mit der Kunst und der Schönheit? Der Lehrer Spohn sagte: »Hirngespinste.«
    Dann waren es eben die schönsten Hirngespinste, die sich denken ließen. Im Julei empfand sie wieder Freude, so schnell ging das: die Freude des Riechens, die Freude des Essens, die Freude des Badens, die Freude des Haarekämmens, die Freude des Kindwiegens, die Freude des Körpers, die Freude der Luft. Als Einzige trug sie nicht mehr Trauer. Ihr war nicht mehr blau, nicht mal mehr grün, ihr war jetzt rot. Wenn sie von ihm geliebt wurde, reiste sie durch sich selbst und kam in Gegenden, wo sie noch nie gewesen war. Ihr Kopf glühte und steckte ihren Körper an. So etwas mag der Kopf vergessen, der Körper vergisst es nicht. Durch ihn war sie wieder da, sichtbar für sich und andere. Wolodja konnte alles, wirklich alles.
    Nur nicht Auto fahren. Sein Chauffeur konnte auch nicht Auto fahren, er kam mit nur einer Pferdestärke viel besser zurecht als mit achtundfünfzig, aber er tat es mit großer Würde: schlecht Auto fahren. »Witja, na Berlin!«, rief Wolodja vom Rücksitz des grauen, stromförmigen Adlers, und in waghalsigem Bogen fuhren sie auf die Reichsautobahn 13, auf der es wegen der Krater nicht allzu gut voranging.
    In Berlin gab es: Kinos, Tanzbars, den Tiergarten, Whisky, den Schwarzmarkt und also Strumpfhosen und Ohrringe aus böhmischem Granat. Solche Ohrringe fallen auf, solch emsiges Klavierspiel fällt auch auf, solch eine fröhliche Autofahrerei erst recht.
    Auf beiden Seiten wurde geredet:

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