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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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erreichte Liesl die lang erwartete Post aus dem Feld: Ein Kamerad überbrachte ihr Viktors Bibel und sein eigenes Beileid. Liesl sagte: Weckt mich auf in einem Jahr.
    Martin, Tati, seine rechte Hand und Viktors Bibel wurden neben Arthur auf dem Ostfriedhof beigesetzt. An Grabsteine mit eingravierten Namen war nicht zu denken. Ein bisschen Platz war noch, den bekam Betty, die sich für zu schmutzig gehalten hatte, um weiterzuleben. Polina beneidete sie alle, selbst den Landser, der in ein Massengrab geworfen worden war.
    Der Kalmücke kalkte ihren Keller, und am 9. Mai wollten seine Kameraden das Kriegsende nicht allein feiern. Aus der russischen Sprache formte Polina Nasenringe und zog sie daran aus dem Haus. Der Kalmücke, der ein Mensch und kein Tier war, sagte, weil ihre Frauen tot seien, suchten sie sich deutsche Frauen und machten mit ihnen, was die Deutschen mit ihren Frauen gemacht hätten, abgesehen vom Erschießen. Nur für den Moment seien sie Tiere, verzweifelte Tiere, so wie Frejlin Liesl, nur habe die keine Waffe und keine Gewalt zur Hand. Das sei keine Entschuldigung, maximal eine Erklärung. Im Auftrag des Hauptmanns, der auch ein Mensch war, brachte er Speck, Kartoffeln und Lebertran. Für Polina hatte er einen großen Fliederstrauß dabei, für Liesl einen kleinen, es war ja im Wonnemonat Mai.
    Die Flüchtlinge kehrten zurück, die Straßen wurden von Schutt und Faschisten gesäubert, das Plündern und Vergewaltigen wurde geahndet. Es war Frieden. Peace, Mir, Paix. Jetzt war die schlimmste Zeit.
    Martha erzählte, was man so von den Russen hörte, wie sie hausten, wie sie fraßen. Sie kochten ein Huhn und schütteten die Brühe weg, sie feuerten ein Magazin auf einen klingelnden Wecker, sie pissten in ihre Stiefel, sie waren so furchtbar unzivilisiert. Sie könne, sagte Polina, diese Rede nicht ertragen, es sei eine Schande, Martha zuzuhören.
    Im Juni saß Witja, so hieß der Kalmücke, weinend auf den Stufen des Hauses. General Bersarin, der Kommandant Berlins, Träger des Leninordens, Befehlshaber der ruhmreichsten Armee, der 5. Stoßarmee, und der ruhmreichsten Front, der 1. Belorussischen, sei tot. Außerdem werde die UDSSR in den Krieg gegen Japan eintreten, und er befürchte, nach Japan verlegt zu werden. Das liege wohl näher an seiner Heimat, aber kommen wir denn gar nicht mehr aus diesem verdammten Krieg heraus? Auch im Russischen ist der Krieg weiblich, selbst der vaterländische.
    Ein paar Tage später, am 20. Juni, erschienen polnische Soldaten auf den Stufen des Hauses. Sie trugen SS - und Wehrmachtsuniformen und riefen: »Packen, packen! Wenn bleiben, als Spion erschossen!« Katja packte schnell ein paar Habseligkeiten in die zwei Kinderwagen, und die Frauen zogen trotz großer Hitze ein Kleid über das andere und darüber noch je einen Wintermantel. Liesl nahm Rudolf auf den Arm, Katja griff den Bräter, Martha und Polina schoben die Kinderwagen ohne Kinder. An der Steigung wurden sie zum ersten Mal kontrolliert. Alles, was den Polen gefiel, nahmen sie sich, und Rudolf konnte wieder in den Wagen gelegt werden. Doch Polina hielt am Fotoalbum fest und Katja am Bräter. Der Fluss war jetzt eine Grenze, auf einer Brücke aus Brettern und Bohlen überschritten sie ihn. Am Westufer warf ein Mann einen Schlüsselbund ins Wasser. Die Schlüssellöcher auf der anderen Seite waren nun polnisch, so wie die Häuser, die Gärten, die Anhöhen, die Baumblüte, die Himmelsleiter. Wenn von der Heimat so viel Leid ausgegangen ist, dann taugt sie sowieso nichts, und was ist das schon, Heimat.
    »Ich freue mich, Sie lebend anzutreffen«, sagte der pensionierte Lehrer aus dem dritten Stock. »Ja, so ist das eben«, sagte seine Frau, »wir müssen stille und zufrieden sein mit dem, was sie uns geben. Seit Pfingsten habe ich keinerlei Fettigkeiten mehr auf die Zunge bekommen, keine Butter, kein Schmalz. Heut nur ein Pfund Rübenschnitzel und Sago, und das Feuerholz holt mein Walther aus dem Walde.«
    Dreimal schloss Polina die eheliche Wohnung auf. »Wo ist dein Hochzeitsgeschenk?«, fragte Katja. Zuerst verstand sie nicht, dann doch. Kurz überlegte sie, nur den Einband zu entfernen, damit Horst das Buch noch vorfände. Dann schüttelte sie heftig den Kopf und bat die Frau des Lehrers um ein wenig Feuerholz. Alle Wimpel und Broschüren, die Modellbomber aus Balsaholz, die Bücher über das Fliegen und den Luftkampf gab sie in die Flammen, die Hemden, die Uniformen, das Hochzeitsgeschenk. Sie lüftete

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