Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Kapitan Wolkow, dessen Brüder die Deutschen ermordet hatten, hielt sich eine Deutsche, hochmütig und nicht mehr ganz jung war die, Mutter eines Kleinkinds, Frau eines verschollenen SA-Mannes, aus irgendeinem Grund sprach sie Russisch, Volksdeutsche wohl. Wladimir Wolkow versorgte sie und ihre Familie, amüsierte sich mit ihr, fuhr, entgegen dem Schukowschen Befehl, mit ihr nach Berlin, was auch Offizieren verboten war. Hatte er schon den Tripper? Wolkow, der zu Hause Frau und Kinder hatte. Auf Parteiversammlungen wurde alles der Länge und Breite nach besprochen, bevor ihn der Oberst selbst zur Rede stellte: »Genosse Hauptmann«, sagte dieser, »Sie kennen den Befehl, sich nicht zu fraternisieren und mit der deutschen Bevölkerung nur dienstlichen Umgang zu haben. Sie kennen das Berlin-Verbot. Was soll das werden, Towarischtsch Kapitan? Sie wollen doch zurück zu Ihrer Familie und nicht nach Sibirien. Lassen Sie es dabei bewenden, Sie hatten Ihr Vergnügen.«
Wolodja kam jetzt heimlich, leise spielte er Klavier. Er spielte für noch jemanden, und mit dem Auto fuhren sie nur nachts. »Pfui«, sagte Liesl, »du solltest dich was schämen. Du gehst mit einem, der der Mörder deines Vaters oder meines Mannes sein könnte, mit einem Iwan, einem Bolschewiken von der Geheimpolizei. Ein guter Mensch soll das sein? Bei der GPU in der Mittelstraße, da wird gefoltert und verschleppt, alle wissen das.« Polina machte kehrt und gab Liesl eine Ohrfeige, die sie von den Füßen holte. Alle fünf Finger hatte sie im Gesicht, zwei ganze Tage lang. »Und was machst du, wenn dein Mann nach Hause kommt?«, rief Liesl.
Inzwischen dachte Polina über die Grenze des Tages hinaus, allerdings nicht sehr viel weiter. Sie dachte von Wolodja bis Wolodja. Er hatte sie neu erschaffen, fürs Erste genügte ihr das. Die Zukunft war nicht mehr lachhaft, aber formlos.
Doch was soll das für eine Liebe sein, die nur von Tag zu Tag reicht? Wen meint das Liebesgefühl, wer wird geliebt. Wie können Klavierinstrumentmusik und Lebertran eine Liebe besiegeln. Wie soll sie gelingen, diese Liebe, wenn das Leben schon so weit fortgeschrieben ist, wenn ihn das klemmende E stört und sie nicht. Wenn sie bald für ein Kind mehr sorgen muss.
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Die Frau hat Menschen, aber nie die Fassung verloren, jetzt baut sie ab. Sie begreift nicht, wieso in diesem Einzelzimmer zwei Sträuße stehen. Wenn einer von ihrem Gatten ist, von wem ist dann der andere, der karge? Was willst du überhaupt, sagt die Frau, nach all den Jahren. – Dein Sohn hat mich angerufen. Der wollte was von mir, aber eigentlich will er was von dir. Ihre Kopfhaut juckt, doch die Frau kann den Arm nicht heben. Und was willst du? – Wie alt ist der Russenbengel inzwischen? Sechsund-, siebenunddreißig? Du hältst ihn noch immer zum Narren. Alle hältst du zum Narren. Der Mann, der da spricht, kommt aus dem Nichts. Er hat weißgescheiteltes Haar, seine Wangen sind von geplatzten Äderchen durchzogen, er trägt ein Eisernes Kreuz und einen grauen Lodenanzug. Mir hast du alles geraubt, sagt er, meinen Namen, meinen eigenen Sohn. – Ich wollte nie etwas Böses, sagt die Frau, ich war immer nur in Not. – Ich sollte den Leuten hier sagen, was du für eine bist. – Sag es bitte mit deutschem Gruß, erwidert die Frau. Sie lächelt zu den Sträußen hin. Wo bekommt man zu dieser Jahreszeit so schönes Stroh?
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An Mauern, an Türen, an Zäunen, an Litfaßsäulen: Überall klebten die Vermisstenanzeigen. Auch diese Blätter nahm der Herbstwind mit, der pünktlich im Oktober kam. Gelegentlich wusste ein Augenzeuge, bei welchem Tieffliegerangriff dieser oder jener verbrannt war, an welchem Tag und in welcher Stadt dieser oder jener gesehen, gefallen, gefangen genommen oder gehängt worden war. Manchmal fand sogar einer zurück, ein einfacher Soldat, der aus Holland oder Afrika heimgelatscht, angeschwommen oder hergezuckelt kam. Der Schreck auf beiden Seiten war dann immer sehr groß und überwog das, was Freude nicht genannt werden konnte. Hohe Tiere – graue Wölfe oder goldene Fasane – kehrten nicht zurück, denn der Iwan hatte weit mehr zu rächen als der Tommy, der Johnny oder der Jacques. Kleinvieh traute sich bisweilen.
Polina hatte nirgendwo einen Zettel angeklebt, denn sie vermisste Horst Friedrich nicht. Doch eines Tages, Japan hatte längst kapituliert, stand er trotzdem vor der Tür, grußlos und fast nicht zu erkennen in seinem Räuberzivil, mit Bart und Schiebermütze. Gar
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