Das halbe Haus: Roman (German Edition)
belehrte er Fräulein Papaioannou, die ihn ansagte. Was einen guten Roman ausmache, fragte sie ihn schüchtern. Dass er nützlich für die Gesellschaft und mindestens so viele Jahre am Leben sei wie eine Katze. Theo wurde nur sechs.
Damit er nicht vergisst, wie sein Vater aussieht, klebt er dessen Passbild unter den Holzbaldachin seines Bettes. Guter Gott, wie geht Beten. Guter Gott, hast du wenigstens einen schönen Ferienplatz abbekommen. Guter Gott, dann sei auch mal gut. »Wenn du wüsstest, was ich über deinen Vater weiß«, lallt Eva, »wenn du wüsstest.«
Am achten Sonntag nach Trinitatis fehlt die erste Packung. Weder in Leos Rucksack noch in einer ihrer Hosen findet er das Schächtelchen mit dem goldenen Globus. Drei Gummifuffzscher passen in die Schachtel, gequetschte Engerlinge. Sie wird doch nicht gleich alle aufgebraucht haben. Er ist wie Quecksilber.
Spielleute mit Schalmeien und Pauken ziehen durch die Stadt, bunte Fahnen wehen überall. In der letzten Juliwoche treten die besten jungen Sportler der Republik gegeneinander an. Unzählige freiwillige Helfer bereiten den Besuchern des siebten Turn- und Sportfestes und der neunten Kinder- und Jugendspartakiade einen unvergesslichen Aufenthalt. Auf der Haupttribüne des Zentralstadions recken abertausend Hände weiße und blaue Fahnen in die Höhe und stellen damit eine Friedenstaube auf Himmelsgrund dar. So wird dem innigen Friedenswunsch der dreieinhalb Millionen Mitglieder des DTSB Ausdruck verliehen. Dynamosportler bilden die berühmte Menschenpyramide, und im Capitol fordern die jungen Athleten: Weg mit dem Nato-Raketenbeschluss! Und jetzt kommt der Hammer: Die Altersklasse 14 startet gar nicht! Die AK 14 muss an der Schauübung der Kinder- und Jugendsportschulen teilnehmen! In roten und grünen Hosen und weißen Leibchen müssen Smoktun, Kößling, Triebe, Krüger und Kupfer Liegestütze auf gelben Kästen machen. Der Rasen ist gemustert wie ein Schachbrett, jeder hat seinen Quadranten, den er nicht verlassen darf. Keine Wettkämpfe für Smoktun, Kupfer und Kößling! Dämlich grinsend müssen sie mit Tüchern wedeln, sie müssen Bänder schwingen und über Springseile hüpfen. Mensch, der Juli ist gar kein schlechter Monat, denkt er, bis die zweite Mondo-Packung verschwunden ist. Wie ein Stasi-Typ kramt er im Wäschekorb und im Schrank herum. Nicht mal Luft holt er dabei und erstickt fast, als er die zerrissene Hülle ohne einen einzigen Engerling findet. Er geht zu Eva und sagt so gelassen wie möglich: »Wusstest du übrigens, dass Leonore Geschlechtsverkehr praktiziert.«
Es ist Sommer. Von oben nach unten schreibt er auf Theos Kreuz, was sein Vater in den Grabstein meißeln ließ. Es ist der reinste Kitsch, aber er hat keine bessere Idee. Die Jägerzäune riechen nach Gift und die Dächer nach Teer. Auch ein vollgepinkelter Grashüpfer kann noch springen. Der Himmel sieht gehäkelt aus.
Eine Dame und ein Herr beugen sich zum Briefkasten, suchen den Garten und die Straße ab. Eine schwarze Limousine mit Fahrer parkt am Bordstein. So ein überlanges, wuchtiges Auto mit Gardinen in den hinteren Fenstern und Fähnchenhaltern auf den Kotflügeln hat er noch nie von Nahem gesehen. Die Dame ist üppig und hat rot gefärbtes Haar, der Herr wirkt drahtig und trägt trotz der Hitze einen Anzug. Am Revers klebt was. Wenn das keine Vogelscheiße ist, dann ist es ein Abzeichen, und zwar kein Peace-Anstecker. Wäre gut, wenn sich der Mann im Haus so langsam mal blicken ließe. »Guten Tag«, sagt die Frau und zupft an den Blüten ihrer Bluse, »wir suchen unsere Enkeltochter.« Da er nicht sofort ausrechnen kann, wer gemeint ist, fragt er, wie die Enkeltochter denn heiße. »Leonore Luise Wilhelmine Devrient«, sagt die Frau, »und Sophie.« Von so jemandem hat er schon mal gehört. »Wo ist Thomas?«, ruft Eva von hinten. »Guten Tag, Eva«, sagt der Mann, »Thomas ist verhindert und hat uns hergeschickt.« – »Manche Dinge ändern sich eben nie.« Eva sieht frisch aus. – »Das gilt wohl auch für dich«, sagt der Mann. – »Bitte, Dieter, nun fangt nicht gleich wieder so an«, sagt die rote Frau. »Können wir eintreten?«
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragt der Mann im Haus. Der Abwasch ist gemacht, ein weißes Stofftuch liegt auf dem Küchentisch, und ein kleiner Wiesenstrauß steht in einer Porzellanvase. Der Herr im Anzug sieht sich ungeniert um, die Frau verstohlen. »Ein Glas Selters, wenn ihr habt«, sagt die Frau.
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