Das halbe Haus: Roman (German Edition)
dass sie seine Hilfe braucht. Er soll zu Eva sagen, dass er nach Wachau in die Disko will. Weil er noch keine vierzehn ist, soll er vorschlagen, dass seine große Schwester ihn begleitet. Das mit Theo tue ihr leid. »Um Mitternacht seid ihr zurück«, sagt Eva, »nehmt den Bus.« Leo hat noch eine Bitte: In seinem Turnbeutel soll er Evas Häkelkleid aus dem Haus schmuggeln. Er denkt, wenn Leo ein Kleid von Eva ausleiht, dann kann ich ja Vaters Jeansjacke anziehen. Wie lustig, wir gehen als Eva und Frank tanzen. Nur zweimal muss er die Ärmel umkrempeln. Hinter der Bushaltestelle zieht sich Leo um. Er ist sprachlos. Es ist in der Tat eine große Verantwortung, der Mann im Haus zu sein. Zufällig kommt Sören auf der ETZ vorbei, auch er will nach Wachau. Am Lenker schaukeln zwei Helme. Zu dritt fahren sie über die Landstraße. Er sitzt zwischen Eva und Sören, dessen Integralhelm riecht nach Mann, ihre Beine sind weich. Die Kirschblüte ist längst vorbei, die Früchte reifen blau, und der Himmel ist grün. Auf der Kreuzung neben der Klapsmühle hat es einen Unfall gegeben. Ein Moped liegt im Graben, und ein Polizist regelt den Verkehr. Schnell nimmt ihm Sören den Helm ab und setzt ihn auf, und Leo rückt so dicht auf, dass er wie Schmelzkäse zwischen zwei Scheiben Toast verschwindet. »Zügisch weiterfohrn mit Ihren Motorrad«, ruft der Polizist und schlenkert seinen Stab. Er erkennt den Polizisten und spürt Leos Brüste und Sörens Schultern.
Das Highlight von Wachau ist die Lichtorgel, die aus LKW -Rückleuchten zusammengebaut ist. So was gibt es sonst nur bei Peter Schilling. Im Schwarzlicht sieht man gerade mal die Zähne, die Socken und Leos Kleid. Ganz allein tanzt ihr weißes Kleid durch den Raum. Sören trinkt nicht, raucht nicht und tanzt nicht. Wenn eine härtere Nummer gespielt wird, nickt er vor sich hin, die Haare fallen ihm ins Gesicht. Seine Kumpels begrüßen ihn mit einem Schulterklopfen und schreien ihm lautlos Sätze ins Ohr. Das Fiese ist, dass man ihn nicht mal hassen kann. Der DJ raunt ins Mikro: »Der nächste Song ist für dich, Schneewittchen. Wir lieben deine Maschen.« – »Bist du auch so ein Tanzmuffel?«, fragt sie ihn. Die ersten Takte von »Stairway to Heaven« kommen, und sie zieht ihn auf die Tanzfläche. Die Mädchen legen Wange und Unterarm auf die Jungsschultern und machen glasige Augen. Die Jungs knicken die Hälse und setzen ihre Hände an die Mädchenhüften, jetzt ist es ein geschlossener Stromkreis. Leo stellt ihn vor sich auf und fängt an, sich zu bewegen. Sie hat gar nicht vor, eng mit ihm zu tanzen. Sie tanzt zu ihm hin, von ihm weg, um ihn rum. Sie dreht sich, blickt ihn über die Schulter an, lächelt, wirft den Kopf immer so, dass ihr Haar über eine Schulter fällt. »Amon, die Arme, die Hüften!« Einmal muss er einfach die Hand nach ihr ausstrecken, um sie anzufassen, aber sie tritt einen Schritt zur Seite, und ihre Augen blitzen. Herrgott, ist dieses Lied lang. Ihr Blick besagt: Untersteh dich, nicht nach mir zu fassen, aber berühr mich bloß nicht. Werd erst mal ein Mann. Weiß man natürlich nicht, wenn man noch nicht mal vierzehn ist. Man weiß ja im Grunde gar nichts mit unter vierzehn.
Von seinem Taschengeld kauft er für sich und Leo eine Limo. Immer wieder drängeln sich andere vor, und als er zurückkommt, ist sie verschwunden. Sören auch, obwohl gerade »Highway to Hell« gespielt wird. Die Zahlen der Stoppuhr sind unlesbar, er muss einen Punker nach der Zeit fragen. Es ist schon Viertel vor zwölf. Noch einmal sucht er überall nach den beiden. Auf ex trinkt er die Limo aus und nimmt den Bus. Die Unfallstelle ist geräumt. Das Haus ist dunkel. Von innen lässt er den Schlüssel stecken und holt sich Watte für die Ohren von ihrem Schminktisch. Ein Punker mit Armbanduhr, wo gibt’s denn so was.
Am Johannistag dreht das Jahr um. Auf der Wiese brennt ein großes Feuer. Die Eichenspinner sind nicht bei Trost, im Mehl nisten Motten, und durch den Briefkasten führt eine Ameisenstraße. Eins nach dem anderen zerdrückt er die Tierchen, die wie kyrillische Buchstaben aussehen. Die überlebenden transportieren die toten Ameisen ab. Alles Gute zum Geburtstag, Vater, ich bin dein Kind.
Bevor das schwarze Auge des Tümpels sein grünes Lid schließt, springen die Fische in den Juli. Im Topf stockt die Milch, es gibt hitzefrei, es gibt Zeugnisse, und dann gibt es Ferien. Acht Wochen lang bleiben die Zensuren verschollen.
Mit einer Handbewegung fegt Eva
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