Das halbe Haus: Roman (German Edition)
See schäumt. Wenn der rote Ballon oben ist, darf nicht gebadet werden. Der Sand ist ein kühles Grab, der Grabhügel muss festgeklopft werden. Muscheln formen die Organe nach, soweit bekannt, Tang die Schamhaare, das Klopfen geht in den Rumpf. An der Meereskante fahren Containerschiffe. Grenzsoldaten steigen über das Grab, Sand rieselt ins Auge. Mal alle Pflichten vergessen, mal vergessen, der Mann im Haus zu sein, einfach mal ein ganz normaler Junge von fast vierzehn Jahren sein, der aber die Dünen nicht betreten soll, obwohl dahinter der FKK -Bereich liegt. Krabben sterben von zwei Tropfen Ammoniak, Quallen brauchen mehr, spitz ist das Dünengras. Wenn es Linie ist, dann gibt es eben Wiederholung. Der Volleyball fliegt ins Wasser, die Frisbeescheibe fliegt ins Wasser, der Handfederball fliegt ins Wasser. Gegen den Wind und die Blicke einen Kral aus Schwemmholz bauen. Fischer, wie tief ist denn nun das Achterwasser? Wenn kein Betreuer schaut, Pferdeküsse verteilen. Arme verdrehen, beim Völkerball eine Rötung werfen, Taue zwirbeln, Köpfe abschlagen bei der Kissenschlacht. Eben ein ganz normaler Junge sein. Wer fast vierzehn ist, darf nächstes Jahr sowieso nicht mehr mitfahren, weil er Geschlechtsverkehr praktizieren könnte. »Warum hast du dich so vollgemalt?« Dem Kummerkasten werden anvertraut: das Heimweh und die Gewalttätigkeit eines fast vierzehnjährigen Jungen. »Warum willst du andern weh tun? Reiß dich zusammen, Kerl. Willst doch nicht vor der Zeit heimgeschickt werden.« In der Früh ein Appell, ein Datum, eine Lufttemperatur, eine Wassertemperatur, eine Losung und eine Windstärke. Ein Mann vom Marineclub verteilt Seilstücke und zeigt den Trompetenstich, den Rundtörn mit zwei halben Schlägen, den Roringstek und die englische Trompete. Ein fast vierzehnjähriger Junge beherrscht das alles blind und rührt keinen Finger. Während der Mittagsruhe treffen die großen Jungs hinter der Waschbaracke auf die großen Mädchen. Sie roochen und legen mit Russisch Brot BUMSFIDEL und MOSE . Ein fast vierzehnjähriger Junge beißt aus einem I die unbiblischen Umlaute. Alle Mädchen sind hässlich, nur in eines mit gepunktetem Haarband könnte man sich vergucken, mit ein bisschen Mühe, ach nee. JAKOB in den Sand schreiben und wegspülen lassen, AMON hinschreiben und wegspülen lassen. Nach der Hälfte flennen die Betreuerinnen, und die Betreuer machen lange Strandgänge. Libellen, diese gläsernen Insekten. Immer geht es um Liebe. Neptun kommt übers Meer, Tang in der Krone und am Dreizack, im Netz die neuen Namen. Nicht mal am großen Lagerfeuer will das Akkordeon gespielt werden. Die Nachtwanderung und die Abreise lassen sich verschlafen. Am Nachmittag kommen die Neuen. Wenn der rote Ballon oben ist, darf nicht gebadet werden. Der Volleyball fliegt ins Wasser, die Frisbeescheibe fliegt ins Wasser, der Handfederball fliegt ins Wasser. Bei der ersten WM der Leichtathleten gewinnen die Sportler der GDR zehn Goldmedaillen, die Amis gewinnen acht, die Russen sechs, unser Oertel gluckst. Hingsen wird wieder von Thompson geschlagen so wie Schmid von Moses. Auch Meyfarths Bär wird nur Zweiter, die FRG taugt nichts. »Liebe Kerstin, heute habe ich einen Hühnergott gefunden, Kyrie Eleison. Bis jetzt ist das Wetter schön. Nur an vier Tagen durften wir nicht baden. Das Wasser ist angenehm warm. Alles ist ganz klasse. Ich habe ein Kreuz gemacht, wo ich gerade sitze. Bis bald, Dein Jakob.« Mit Gebrüll ins Wasser stürzen, wenn der Ballon oben ist. Sich von der Gruppe entfernen. Von Grenzern zurückgebracht werden. Stubenarrest und drei Tage Küchendienst verpasst bekommen, aber nur, weil die Zeit so gut wie abgelaufen ist und man wirklich einen Bernstein vorzeigen kann. Behaupten, den Fahrtenschwimmer zu haben. Als einziger Junge nicht tanzen. Lange das einzige Mädchen, das auch nicht tanzt, anstarren. Dann mit wildem Mut dieses kurzhaarige, knabenhafte Mädchen auffordern. »Wenn du dich da mal nicht irrst«, sagt das Mädchen. Sich ganz selbständig bewegen, von ihr wegtanzen, zu ihr hintanzen, um sie rumtanzen, ab und zu über die Schulter blicken. Every Breath You Take. Herrgott, jetzt flennt die. Und Herrgott, das ist gar kein Mädchen, das ist eine Betreuerin. Bei der Ankunft im Bahnhof vergeblich auf den Zehenspitzen stehen und Ausschau halten. Jemanden erblicken, der weitergeht, einen Mann mit kurzem Haar und ohne Bart. Der die Hände über den Kopf hebt. Sich bewusst werden, keinen einzigen Ton gespielt
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