Das halbe Haus: Roman (German Edition)
weiß, dass du es weißt! Na, da weißt du es eben. Es ist eh zu spät. Und ich weiß, was ich weiß.« Sie geht zu ihrem schimmernden Heiligen. »Wir sind sowieso verloren. Wir alle haben uns versündigt und sind verloren.« – »Was ist das überhaupt für ein hässlicher Vogel?«, fragt er. »Der Schutzpatron der Heulsusen oder was?« – »Mein Gott«, sagt sie, »du bist genauso verkommen wie dein Vater. Voller Niedertracht und Selbstsucht und dummer Verbohrtheit.« Sie macht ein Gesicht, als wolle sie vor ihm ausspucken. »Verdorben und ohne jedes Mitgefühl!« Er ist größer als sie und stärker. Seit er wieder sehen kann, macht er jeden Tag Dauer- oder Intervallläufe am Berghang. Ein kleiner Schatten wird für immer auf seiner Iris bleiben, eine Schliere, die hochrutscht, wenn er in den Himmel guckt, und abgleitet, wenn er zur Erde schaut. Er nimmt die Schere vom Haken, packt sie mit der Faust und geht auf seine böse Stiefmutter zu. Glotzäugig weicht sie zurück. »Mich«, sagt er, »wirst du nicht abschieben. Mich kriegst du nicht klein. Ich bin hier zu Hause.« Seine Stimme ist heiser und tief. »Das hat ein Nachspiel«, sagt sie.
Früher hat er in der Vorweihnachtszeit für alle Platzdeckchen gefädelt und Untersetzer gebrannt. Mit einer Nadel hat er Volksmusiknachmittage lang bunte Perlen in eine gefettete Florenadose sortiert und diese auf der Herdplatte geschmolzen. Die Freude konnte gar nicht so groß sein, wie alle immer taten. Denn nie hat irgendjemand sein Glas auf einem seiner lutschergroßen Untersetzer abgestellt, nie! Obwohl sie im Land der Untersetzer und Platzdeckchen lebten. Er kauft eine Kerze und geht doch nicht zum Grab.
Bauchkneifend vermisste Helga! Wohin soll ich dir denn schreiben? Nicht mal eine Anschrift hast du mir hinterlassen. Und Eva kann ich nicht fragen, bis wir an den Küchenverhandlungstisch zurückkehren, um die Abrüstungsgespräche wiederaufzunehmen. Wo immer du bist, denk daran, daß es vorbeigeht, daß die Wolken ziehen und die Bäume ausschlagen werden. Irgendwann wird es nicht mehr so schlimm sein, ein Vogel wird singen, ein Regen wird nur noch ein Regen sein. Kopf hoch, und schlafe gut. Dein dich ewiglich liebender Heinz Rennhack. Ach, was ich dir auch immer mal noch sagen wollte: Dir muss es nicht leidtun. Mir schon. Verzeihung.
Eva geht zur Weihnachtsmotette. Als sie wiederkommt, schenkt sie ihm ein Buch: »Die Abenteuer des Werner Holt«. Er hat nichts für sie. Das Päckchen von der Großmutter ist nicht angekommen. Weil Eva die Geduld fehlt, übernimmt er das Kochen. Beidseitig würzt er das Fleisch, mariniert es, würfelt Zwiebeln, Gurken und Speck darüber. Er rollt das Fleisch auf, sticht fünf Spieße hinein und formt die nächste Rolle. Nichts quillt heraus. In Polinas Bräter schmort er die Rouladen. Eva liest und raucht, während er den Rotkohl zerkleinert. Zwischendurch sagt sie: »In drei Wochen ist Besucher.« Er stückelt Äpfel und Zwiebeln, zerlässt Gänsefett, brät die Zwiebeln an, schüttet das Kraut hinein, es muss etwas angeschmort werden, bevor man Rotwein und Brühe angießen kann. Später kommen noch Marmelade, Apfelsinensaft, Nelken, ein Lorbeerblatt, Salz und weißer Pfeffer hinzu. Und Mottenmehl, zum Andicken. Vom Kochwein schenkt er zwei Gläser voll und reicht eines Eva. Sie stoßen an.
Zu Silvester bleibt er allein. Kolja macht in seinem Keller eine Party und hat ihn eingeladen, aber er wird nicht erscheinen. Eva geht tanzen, und er sieht fern. Er hat sich ein Ragout fin zubereitet, mit Pilzen und Erbsen aus der Dose und einer kaum klumpenden Mehlschwitze, die er mit süßem Weißwein abgelöscht hat. Er hat das Silberbesteck seiner Großeltern herausgesucht und eine Serviette mit Monogramm. Nach seinem Dinner for One schaut er Radball. Wie Stierhörner sind die Lenker nach oben gebogen, und die Sättel fallen fast vom Hinterrad. Wenn einer der vier Spieler sitzt, sieht es nach Plumpsklo aus, wie lustig. Einer jongliert den Ball mit dem Vorderrad, einer hüpft auf dem Hinterrad. Auf einmal schneit es. Er rappelt sich hoch, nimmt die Weinflasche und poltert die Treppe rauf. Verpasse ich halt das Nachspiel, denkt er und klettert durch die Luke aufs Dach. Als die Raketen in die Höhe pfeifen, sagt er mit tiefer Stimme: »Prosit Schaltjahr!« Dann fliegt er davon.
Weil das Haus Geräusche macht, wacht er mitten in der Nacht auf. Es sind nicht die paar Raketen, die noch pfeifen, nicht die paar Böller, die noch knallen, auch
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