Das halbe Haus: Roman (German Edition)
in Karlshorst sind die Gebäude zerschossen. Sie fragt Soldaten mit roten Armbinden nach dem Weg zur Kommandantur. Sie fragt Liesl, die ein Jahr lang geschlafen hat, ob sie es schaffe. In einem Wohngebiet blühen schon die Linden, ganz ohne Geruch, in einem Garten steht eine Zinkwanne, in der Kinder planschen. Der Junge zappelt in ihrem Arm. Ausgerechnet die Rheingoldstraße müssen sie überqueren. Sie wird es Liesl nicht vergessen, dass sie ihr zur Seite steht. In der Einfahrt zum Hauptquartier unterbrechen Offiziere ihr Gespräch. Staunend blicken sie ihnen nach. Liesl krallt sich an ihr fest. Der Junge will wieder selber laufen. Sie muss ihn hinunterlassen, er reißt aus, stolpert über das Rondell, die zwei Treppenstufen hoch. Triumphierend hält er sich an einer der vier Säulen fest, die das Vordach tragen. Er lacht wie einer, der überall hinkommt, solange man ihn nur vom Überallhinkommen abhalten will. Auch die Offiziere lachen aus voller Ordensbrust, und einer ruft: »Ty moj molodez!«
Im Vorraum stiefelt der Junge über den spiegelnden Marmor, noch immer krallt sich Liesl an ihr fest. Die Tür zum Kapitulationssaal steht offen. Er wirft die Beine hoch, seine Beule scheint ihn nicht zu schmerzen, und er marschiert in den Saal, in dem das Ende des Dritten Reichs besiegelt wurde. An grünen Tischen und unter einer Kassettendecke, einem Lampenkranz und den vier Fahnen der Siegermächte. Ein junger Oberleutnant (drei Sterne) stellt sich dem winzigen Eindringling in den Weg. Der Junge hält sich an der Ausbuchtung seiner Uniformhose fest und schaut selig nach oben. »Hinaus«, sagt der Oberleutnant und rümpft die Nase, »hinaus geschwind.« Er will sie nicht zum Kommandanten vorlassen, wie sie hier überhaupt hereingekommen seien. Das laute Reden ruft die Ordonnanz herbei. Sie erklärt sich der Ordonnanz, auf Russisch, vergeblich. Auf der Stelle müssen sie das Gebäude verlassen, Liesl zieht sie, und sie zieht den sich sträubenden Jungen mit. Der Junge ruft: »Neino! Neino!« Und er ruft: »Meino! Meino!« Draußen torkeln ihnen die Offiziere aus dem Zug entgegen. Sie reden mit der Ordonnanz, hitzig. Der Oberst sei auf der Bahn, sagt die Ordonnanz schließlich.
An den zerschossenen Pfählen und Mauern der Rennbahn kleben Plakate, die für das Deutsche Traber-Derby am 22. Juni werben. Sie schleifen den Jungen über den Sandweg, der unter alten Kiefern zur Bahn führt, vorbei an einem bleifarbenen Reiterdenkmal. Seine Windel ist voll. Im Kapitulationssaal, am Bein des Leutnants, muss er sich erleichtert haben.
Auf der Bahn, einem Oval, das groß wie ein Flugfeld ist, zieht ein einziges Gespann seine Runden. Dreimal trabt der Braune mit dem kleinen Mann im Sulky vorbei, eine Staubwolke hinter sich herziehend, bis er vor ihnen, den einzigen Zuschauern, zum Stehen gebracht wird. Ein tiefes Zittern breitet sich unter dem glänzenden Fell aus, wie Wellen, von den Schultern zu den Lenden über den sehr langen Rücken. Der Fahrer trägt einen weißen Helm mit rotem Stern und eine große Brille, die an Fliegenaugen erinnert. Was die Damen wünschen, fragt der Oberst auf Deutsch, auf einmal sind sie also Damen. »Sprechen denn alle Russen Deutsch?«, flüstert Liesl, die es wohl besser weiß. Sie selbst fasst sich ein Herz und antwortet in seiner Sprache. Hauptmann Wladimir Wolkow, sagt sie. Weißrussische Armee, Guben, sagt sie. Entfernt, sagt sie, denunziert und entfernt. Vom Brief seiner Eltern spricht sie, in jeder Zeile Güte und Herzlichkeit, der Sohn habe ihnen alles erzählt, er werde sich scheiden lassen. Binnen Jahresfrist werde er aus Sibirien zurück nach Leningrad dürfen und, so Gott wolle, wieder am Konservatorium unterrichten. Seine Eltern möchten sie, ihre liebe Tochter, und ihren ersten Enkelsohn dann auch in die Arme schließen. Das alles sagt sie ohne Punkt und Komma, auf Russisch. Sie sagt nicht, dass ihre Kräfte seit einem Jahr tauen und seine Abwesenheit eine Grube voll Tauwasser ist, an deren Rand sie steht. Als sie geendet hat, kramt sie den Brief und ein paar Fotos hervor, die Wolodja und sie zeigen.
Der Oberst macht keine Anstalten, diese Beweise entgegenzunehmen. Ob sie glaube, sagt er auf Deutsch, dass sie die Einzige sei, die zu ihm komme. Das ganze Land sei voller Frauen, die eben noch einem Nazi in den Armen gelegen hätten und jetzt auf die Männer zurückgriffen, die da seien: die Soldaten der Roten Armee. Gut, gut, so sei sie eben, die menschliche Natur. Auch in den deutschen
Weitere Kostenlose Bücher