Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
Vom Netzwerk:
bauen sie sich jetzt mit Zuckerwasser, Metzi, Konrad, Kolja, Falk und Jakob. Sie sind die Zocker, sie sind die Punker. Sie hören Lindenberg. Lässig singen sie mit: »Hallo Erich, kannst mich hörn? Hallololöhchen hallo.« Früh wird es dunkel, eine orangefarbene Blase umhüllt die Köpfe der Laternen.
    Am Krähenwinkel läuft er dem Trainer in die Arme. Er schnippt die Kippe weg. »Wenn du nicht zu mir kommst, muss ich eben zu dir kommen«, sagt der Trainer. »Stell dich mal gerade hin. Schleichst durch die Dämmerung wie ein dickes, eins achtzig großes, qualmendes Fragezeichen. Es war einmal ein Athlet. Mach das Maul auf.« – »Was soll ich sagen.« – »Stimmbruch auch noch. Wenn du deine Lauscher aufsperrst, schenke ich dir ein paar Weisheiten, ganz umsonst. Nu?« – »Ja doch.« – »Ad eins: Sei ein Ausrufezeichen. Ad zwei: Wenn dereinst der Große Zahlenmeister kommt und dich anzählt, dann interessiert den nicht, ob du das Rennen gewonnen hast. Den interessiert nur, wie du es gelaufen bist. Kapiert? Ad drei: Wer laufen will, muss trainieren. Wintertraining ist noch immer in der Karl-Tauchnitz-Straße, zum Beispiel morgen um fünf, sine tempore. Ad vier: Der Leichtathlet wird im Winter gemacht. Ad fünf: Triebe ist auch zurück. So weit alles klar?« Also ist Dabeisein doch alles.
    Triebe will nicht darüber reden, warum er nicht mehr auf der KJS ist. Beim Aufwärmen geht er ihm aus dem Weg, bei der Pendelstaffel klatscht er einen Kleinen ab, und beim allgemeinen Dehnen stellt er sich lieber an eine entfernte Stelle des Kreises. Der blonde Reither aber sucht seine Nähe. »Ich hab die Fünfermarke geknackt«, sagt er armkreisend. – »Gut.« – »Ich stell jetzt um auf Schrittweitsprung.« – »Alle Achtung.« – »Aber fünf einundsiebzig, das pack ich nie. Der Trainer sagt, dein Rekord ist für die Ewigkeit. Wie bei Beamon.« – »Na ja, einer wird ihn schon mal knacken.« – »Nie im Leben.« Weder Triebe noch er tragen die blauen Trainingsjacken von der KJS . Im Vereinsheim hängt eine große Tafel mit allen Vereinsrekorden. »Unsere Besten« steht darauf, und es sind Ergebnislisten zu allen Disziplinen angeheftet, sauber geführt mit grüner, roter, schwarzer und blauer Tinte. Sein Name wird noch daraufstehen. Jetzt kneift seine alte Trainingshose. Er atmet kurz, schon das Aufwärmen hat ihm zugesetzt, das miserable Essen und das Roochen sind schuld. Der Trainer steht neben einer dicken Matte, über die ein breites Gummiband gespannt ist. Vor die Matte schiebt er ein Sprungbrett. »Wir trainieren heute Hoch-Weitsprung«, ruft er und erklärt die Technik. »Friedrich zeigt vor. Auf geht’s.« An beiden Ständern schiebt er das Band in die Höhe und klatscht in die Hände. Ehrfurchtsvoll machen die Jüngeren Platz und reihen sich hinter dem Rekordhalter Friedrich ein. Seit vier Monaten steht dieser erstmals wieder an einem Ablaufpunkt. Das Korbballbrett ist hochgeklappt, die Ringe und die Taue hängen unter der Decke, der Siebenmeterkreis verliert seine Farbe, und die Hälfte der Lampen brennt nicht. Friedrich rennt auf die dustre Ecke zu, in der die Matte liegt, donnert auf das Sprungbrett, müht sich nach oben, zerrt seine Beine nach vorn, spannt mit den Fußspitzen das Gummiband, spannt es weiter, dann rutscht es ab und schnalzt mit voller Wucht auf seine weit aufgerissenen Augen.
    Die Röntgenbilder besagen, dass sich die Rauten des Bandes auf seine Iris geprägt haben. Bei Tageslicht kann er nicht mal eine Sekunde lang die Augen offen halten, weil sie sofort brennen und tränen. Bei Kerzenlicht kann er die Augen zwei Sekunden lang aufmachen. Er sieht dann einen rautenförmigen Kerzenschein. Jeden Tag führt Eva ihn zur Poliklinik, wo man ihm eine Tinktur unters Lid träufelt, die zuerst höllisch ätzt und dann für eine Stunde seinen Schmerz lindert. Sie könnten es auch einfacher haben, sagt Eva, sie kenne einen Arzt, der Hausbesuche macht. Der Arzt bringt dieselbe Tinktur mit und redet nicht viel. »Wie geht es dir?«, fragt er. »Ist es gleich auf beiden Augen? Wie lang kannst du das rechte offen lassen?« Auch Eva verliert kein Wort zu viel. Sie duzt den Arzt, tauscht aber nur knappe Mitteilungen mit ihm aus. Sein Gesicht ist eine fleischfarbene Raute, er fährt einen Trabi.
    Am Morgen seines Geburtstags hat Eva schon das Haus verlassen. Er darf die Tinktur jetzt selbst träufeln, muss aber die Augen immer noch geschlossen halten. Im Haus kennt er sich blind aus. Es sind

Weitere Kostenlose Bücher