Das halbe Haus: Roman (German Edition)
nicht der Holzwurm, der im Gebälk hockt. Es ist etwas anderes, das er hört. Ein Schaben, ein Rascheln, dann Schritte. Ein Keil Flurlichts fällt auf die Dielen seines Zimmers. Ganz ruhig bleibt er im Bett liegen. Der Keil vergrößert sich, und ein Schatten tritt herein. »Schlaf weiter, ich will nur ein paar Sachen holen«, sagt der Schatten. – »Du hast Nerven, mich so zu erschrecken«, antwortet er. – »Reg dich ab«, sagt der Schatten und setzt eine Tasche neben den Ofen. »Du hast wie ein Baby geschlafen.« – »Ich bin kein Baby.« – »Hör ich ja. Rück mal ’n Stück.« – »Ich dachte schon, du kommst nie wieder.« – »Ich habe Mutter nicht gefunden, obwohl ich alles abgesucht habe.« – »Ist doch egal, ob du sie findest oder nicht.« Sie legt sich neben ihn und lässt ihre Hand in seine gleiten. Ihre Hand ist trocken und warm, er erwidert ihren Druck. »Hast du das Blütenblatt?«, fragt sie. – »Dafür ist es jetzt zu spät«, sagt er, »das funktioniert nicht mehr.« Still liegt sie neben ihm, er hört nicht mal sein Herz, nur ihren Atem. »Was«, fragt sie schließlich, »hast du dir denn gewünscht, vor anderthalb Jahren?« – »Dasselbe wie du. Oder muss es das Gleiche heißen?« Dass man so ruhig und ohne Angst neben einem Mädchen liegen kann! Oder muss es Frau heißen? – »Das spielt keine Rolle. Was hast du dir gewünscht?« – »Na, dass sie nie im Leben zusammenkommen. So wie du.« – »Ich hab mir das nicht gewünscht.« – »Echt jetzt? Was hast du dir dann gewünscht?« – »Was anderes.« Übelst, denkt er, und weil er nicht auf den Kopf gefallen ist, denkt er gleich hinterher: Sie hat sich gewünscht, dass die zusammenkommen. Dass wir alle zusammenkommen. Aber gepustet hat sie nicht. Wie Hammer ist das denn. Jetzt steht sie auf und geht zu ihrer Tasche. Darin befindet sich der Rekorder. Sie drückt eine Taste. Eine Geige legt den Faden einer traurigen Melodie: City, »Am Fenster«. Im Flur geht das Licht aus. »Komm, Tanzmuffel.« Sie zieht ihn aus dem Bett, setzt seine Hände auf ihre Hüften und faltet ihre hinter seinem Hals: ein geschlossener Stromkreis. Ganz dicht an seinem Ohr sagt sie: »Vom Tanzen kriegt man keine Kinder, echt nicht.« Einmal wissen, dieses bleibt für immer.
VI
DAS HERZ IST EIN MUSKEL
Juli 1984 – September 1984
Es ist eine Welt, gegen die Welt zu halten.
24. Familienaufstellung
Ungebührlich warm ist es im Juni 1947. Wie Achtelnoten sitzen die Schwalben auf den Stromleitungen. Der Zug, der sie nach Berlin bringt, hat nur drei Waggons. Frauen mit Koffern und Paketen drängen hinein, viele müssen auf dem Gleis zurückbleiben. Sie trägt einen weißen Rock mit roten Kerzen, früher die Weihnachtstischdecke.
Im abgeschirmten Militärwaggon sitzen nur zwei sowjetische Offiziere. Liesl und Polina Friedrich sollen Platz nehmen, hübsch und jung genug sind sie. Liesl lehnt sich nicht an. Das Stolperkind weint, das Stehaufkind lacht. Zu Hause hütet Katja den anderen Sohn, der bald drei wird.
Der Fahrtwind bauscht die Vorhänge. Durch den Gang stolpert der Junge voran, er wirft die Beine in die Höhe und schlenkert mit den Armen. Die Offiziere locken und necken ihn. Er stößt sich, weint, lacht, strampelt, torkelt weiter. Liesl springt ihm nach, sie sorgt sich wie eine Amme, nur halten kann sie den Jungen nicht. Als der Zug kreischend bremst, fliegt er durch das Abteil, als hätte ein böser Puppenspieler seine Hand im Spiel. Den Kopf schlägt er sich an, und auch der Zugführer erleidet eine Kopfverletzung. Das Fensterglas ist rot und gelb gesprenkelt, es stinkt nach Pferd. Soll man die Fenster öffnen oder doch geschlossen lassen, während man in dieser Gluthitze wartet?
Endlich kann die Fahrt fortgesetzt werden. Der Sommer hat das Land verbrannt, nur der Weizen steht gut da. Franks Beule, Liesls steifer Rücken. Es kommen Schrebergärten, zertrümmerte Fabriken, Bahnsteige mit unzähligen Menschen. Berlin ist ein kühler Keller, in dem der Schutt eines ganzen Hauses liegt. Die Russen reißen die Fenster auf und brüllen: »Kaput. Fritz kaput.« Auf den Trümmern sitzen Worte, bereit, ihr etwas zu zeigen. Doch auch die Scham ist, wie der Schmerz, auf die Dauer nicht zu ertragen. Im Schritttempo fahren sie durch den Schlesischen Bahnhof und weiter zum Alexanderplatz. Schon vom Zug aus sehen sie den Schwarzmarkt, den es noch immer gibt. Sie trägt die Ohrringe aus böhmischem Granat, dem Lokführer gefallen sie.
Auch
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