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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Luther die Bibel ins Deutsche, ein Instrument der Emanzipation. Luther kämpfte gegen Wucher, Bettelei und Zehnten an sowie gegen die großen Kapitalgesellschaften, etwa die Fugger, die Inkarnation des Frühkapitalismus. Martin Luther, dessen Geburtstag sich heute zum fünfhundertsten Mal jährt, ist seit Neuestem einer der besten Söhne des deutschen Volkes, ein Urahn der progressiven Kräfte. Schon seine Mami wollte, dass mal was Tolles aus ihm wird.
    Er muss ein Passbild für seinen Personalausweis machen lassen. Den Abzug könnte er unter den Baldachin seines Bettes kleben, zu Leo und Vater. Nachdem er mit beiden gesprochen hat, träumt er, dass er sich mit Vaters Dachshaarpinsel einschäumt. Das ganze Gesicht, bis auf die Augen. Doch als er den Rasierer ansetzen will, ist sein Gesicht blank. Der Schaum ist eingezogen, sein Kopf ist wohl ein Schwamm.
    In weniger als acht Minuten erreicht eine von der BRD abgeschossene Pershing- II Moskau. »Konjunktiv eins«, sagt Dr. Müller nachsichtig, »würde erreichen.« Im Dezember geht er wieder zur Schule. Aber acht Minuten, das ist schlimm. Wie viele Minuten braucht sie dann bis zur 8.  POS Hedda Zinner? Wegen der hohen Zielgenauigkeit werden Cruise-Missiles und Pershing-Raketen – sie treffen auf fünfundzwanzig Meter genau – als Erstschlagwaffen bezeichnet. Es sind Angriffswaffen, obwohl die NATO behauptet, ein Verteidigungsbündnis zu sein. »Unsere Arsenale könnten mit einem Schlag vernichtet werden, und dann könnten wir nicht mehr abschrecken«, erklärt Dr. Müller, »Konjunktiv eins.« Sicher, unsere Waffen dienen nur der Abschreckung und Verteidigung, so wie die Mauer uns vor den Imperialisten schützt. Die USA sitzen interkontinental im Trockenen, während ihre Verbündeten in Europa auf einen Krieg zusteuern. Natürlich unterbricht die SU die Genfer Gespräche, natürlich müssen angesichts dessen die Abrüstungsverhandlungen zum Erliegen kommen. »Der Stacheldraht an der Grenze zeigt aber nach Osten«, sagt er laut, »in unsere Richtung.« Mit eigenen Augen hat er es gesehen.
    In Evas Kulturbeutel findet er eine Packung, die ursprünglich einundzwanzig grüne Dragees enthielt. An vier Stellen ist die Rückseite zerplatzt: Am Mo, am Di, am Mi und am Do wurde verhütet, immer den Pfeilen nach. Er drückt die restlichen Pillen in den Ausguss.
    Händeringend, herzklopfend und kopfschüttelnd vermisster Amon! Hoch sollst du leben, an der Decke kleben, niemals runterfallen, niemals Arsch aufknallen, dreimal hoch! Vierzehn Lenze, Kinners, wie die Zeit vergeht. Bewahr Dir mal Dein sonnscheß Gemieht, dann kann Dir nix passieren. Meinen eigenen Arsch hab ich mir ganz schön aufgeknallt. Tut jetzt nicht so viel zur Sache, aber mit vierzehn war er noch heile. Sie nennen das hier Internat, ich nenne es Heim. Sie nennen das hier Kaderschmiede, ich nenne es Mutprobe, Blutprobe, Glutprobe. Es tut mir echt leid, daß ich mich nicht ordentlich von Dir verabschiedet habe, kleiner, großer Amon. Ich hatte solchen Horror vor den Alten, aber es hat ja nichts genützt. Meine Spiegelnachricht hast Du gelesen und vernichtet? Sehr leid tut es mir auch um Theo, echt und ehrlich. Und um Frank tut es mir leid. Um Dich sowieso, um mich und sogar um Eva. Ich denke oft an das letzte Jahr und frage mich, warum alles so schiefgelaufen ist. Ich weiß es nicht. Vielleicht haben wir uns nicht genügend angestrengt, vielleicht haben wir zwei nicht dolle genug gewünscht. Zumindest ich habe das Blütenblatt damals nicht weggepustet, sondern aufgehoben, wie Du siehst. Vielleicht war das der Fehler. Nimm es und puste Du für mich. Ich versteh nix vom Pusten, glaub mir. Take it easy, altes Haus. Deine Dich ewiglich liebende Helga Hahnemann.
    NATO und Waldsterben und Tennis. Streiks und Videorekorder und Pornokinos und Neonazis. Mutlangen, DaDaDa, schneller Brüter, Flick-Affäre. Türken, die die Straße kehren, und Kinder, die anschaffen. Graf Lambsdorff, die Serve-and-Volley-Gräfin, Graf Zahl, der King dieser Stadt – ganz hoch auf der Leiter. Und dann fiel ich ab, ja dann fiel ich ab.
    »Rede mit mir!«, ruft Eva. Eine leere Packung Ovosiston hält sie ihm unter die geschwollene Nase. Das Aluminium ist durchlöchert. »Ich flehe dich an, rede mit mir!« Mit Stutenaugen glotzt sie ihn an, die Wimperntusche ist überall, nur nicht auf ihren Wimpern, und am liebsten möchte sie ein Wort aus ihm rausschütteln. Dann schüttelt sie nur ihren Kopf und schleudert die Packung fort. »Ich

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