Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Frauen sei eine Natur. Doch man möge diese Natur nicht ständig mit Liebe und Schicksal verwechseln. Sie fasst ihre Ohrringe an und sagt auf Deutsch, dass es doch wohl umgekehrt sei: dass die Soldaten der Roten Armee auf die deutschen Frauen zurückgriffen, wenn man überhaupt so sagen könne. Sie zieht Liesl zu sich, der Oberst schweigt. Und war es nicht Wolodja, der eines Tages vor ihrem Haus stand, ein Klavier und ein Sauerkrautfass auf der Ladefläche?
Sie nimmt den Jungen, der ganz still war, und stellt ihn gerade hin. Diesmal bleibt er auf dem Fleck stehen. Sein Federhaar klebt am Kopf. Mit tellergroßen Augen sieht er den Wagenlenker und das Pferd an. Sie hebt ihn hoch und sagt auf Russisch: »Das ist sein Sohn. Der Sohn eines russischen Offiziers.« Jetzt erst schiebt der Oberst die Brille auf den Helm und betrachtet den Jungen, der auf einmal wie wild strampelt. Weil er so heftig strampelt, muss sie ihn wieder absetzen. Der Junge stakst auf das Pferd zu und lässt sich zwischen dessen Hufe plumpsen. Der Braune senkt den Kopf und bläst ihm seinen Atem ins Genick.
Wer das Kind so zugerichtet habe, fragt der Oberst. »Ein Pferd«, platzt Liesl heraus. »Wir nicht. Ein Pferd war’s. Jetzt ist es tot.« Sie schreit sich die Seele aus dem Leib. Ungläubig sieht der Oberst vom Kind zu den Frauen und zurück. Dann lacht er. Er lacht so laut, dass der Braune scheut. »Nehmen Sie den Knaben fort, ich fürchte um mein Ross.« Er sagt »Knabe« und »Ross«. Polina nimmt den Sohn des Russen an sich, der unverkennbar alles von ihm hat: den breiten Kopf, die blauen Augen, das Lachen, das die großen Ohren aufspannt. Den Eigensinn und die Unrast hat er wohl von ihr. Unter den Pfiffen einer Peitsche springt der Braune ins Geschirr und zieht den Oberst auf die Bahn hinaus. Eine Staubwolke wirbelt über das Geläuf.
Schweigend marschieren sie durch die Trümmerstadt. An einer Pumpe windeln und waschen sie den Jungen, unter dem Wasserstrahl kühlen sie ihren Puls. Niemand weiß so viel über sie wie Liesl. Von Anni weiß sie, von Arthur, von Horst, von Tati, von Betty, von Wolodja, von der Klaviermusik, vom Hütemachen, vom Autofahren. Sie weiß, dass die Schwägerin geliebt hat, als ihr eigener Sohn starb, als sie ihren eigenen Mann betrauerte, als ihr Gewalt angetan wurde, wohl auch schon. Ein Jahr lang hat sie geschlafen und ist mit nichts aufgewacht.
Es ist heiß, es ist Sommer. Das Kind ist eingenickt, schwer liegt es in ihren Armen und wird immer schwerer. Irgendwann gibt sie es Liesl, die es an Martins statt nimmt. Auf einmal sind ihre Arme ganz leicht, wie ihr Kopf und ihr Herz. »Das hier, Lieselotte, ist nie geschehen«, sagt sie. »Nichts von all dem ist je geschehen.« Sie wird es Liesl vergessen, sie wird es selbst vergessen. »Der Junge wird Frank und er wird Friedrich heißen«, sagt sie. Am Schlesischen Bahnhof besteigen sie einen Zug.
★
Seit dem frühen Morgen steht sie am Herd. Sie schmort Rouladen, gefüllt mit Speck, Zwiebeln, Senf und Gurken, so, wie ihre Mutter es sie gelehrt hat. Die Polenta blubbert, und auf der hinteren Herdplatte köchelt die Krautsuppe, der Borschtsch. Dessen Zutaten waren gar nicht so leicht zu bekommen: Kaum ein Supermarkt hat Weißkohl und Rote Bete vorrätig. Im Backofen bräunt ein Streuselkuchen.
Die ganze letzte Woche hat sie Bettwäsche, Rasierschaum, Einwegrasierer, einen Schlafanzug Größe 52, Hausschuhe, ein kleines Kassettenradio und ein Rätselheft für ihren Sohn gekauft. Fieberhaft hat sie überlegt, was er noch benötigen würde. Ohrstäbchen, Doppelkorn und Gewürzgurken fielen ihr noch ein, und eine Zehnerkarte für die Minigolfanlage hat sie auch schon gekauft.
»Er wird sich erst mal ausruhen wollen«, hat Hermann zu bedenken gegeben. Geduldig hat er sie auf ihren »Raubzügen« begleitet, bis nach Burgkreuz, Schweinfurt und Würzburg, wo sie einem Straßenmusiker seine Maultrommel abschwatzte. Nur am Schluss, als sie noch einmal in das Tabakgeschäft musste, hat er im Auto gewartet. »Sorge dich nicht, ihr werdet euch gut verstehen«, sagte sie auf der Rückfahrt. »Er kann im Odeon als Kartenabreißer anfangen«, sagte Hermann, »nur bis er etwas in seinem Beruf gefunden hat, meine ich.« – »Weißt du, das ist ganz lieb von dir, aber er hat studiert.« – »Es wird nicht leicht sein, etwas zu finden, bei der allgemeinen Lage. Wann und wie sein Diplom anerkannt wird, muss man auch noch sehen. Es wäre ja nur für den Start.« – »Wirklich,
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