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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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zugesprochen hatte. Dann sang sie ein englischsprachiges Lied, was mich peinlich berührte. Ich verstand nur die Worte „River“ und „Schellfisch“. Als sie geendet hatte, sprach sie erneut dem Alkohol zu und sagte in etwa: „Das hat mich am meisten angesprochen, daß nicht klar war, wer wen sucht. Und die Sehnsucht nach dem Lachen.“ Sie bedankte sich bei mir für meine offenen Worte und sagte, daß ausgerechnet ich „eine gute Seele“ bin und ihr sehr geholfen habe. Diese Einschätzung veranschaulicht das arglose Vertrauen der F. in meine Person. Im Anschluß wurde dem Alkohol noch weiter zugesprochen, und so kam die eigentlich nicht zu übersehende Schwangerschaft der FRIEDRICH zur Sprache. Nach Mitternacht traf ihr Adoptivsohn ein, für den sie erziehungsberechtigt ist. Früher ein fröhlicher und aufgeschlossener Junge, hat sich der F. sehr zu seinem Nachteil entwickelt. Er trug eine Irokesenfrisur, ein Nicki mit Brandlöchern und Filzstiftkrakeleien und ein Hundehalsband. Statt einer normalen Begrüßung sagte der F. „Peace“ und hob die Finger. Die FRIEDRICH hob auch die Finger und sagte ebenfalls „Peace“. Als er nach oben gegangen war, verriet sie, daß er andauernd Ärger in der Schule hat. Er ist nicht in die FDJ eingetreten, was sie befürwortet, verhält sich aber auch sonst aufmüpfig und provoziert seine Lehrer mit seinem frechen Verhalten. „Wenn er wenigstens kritische Fragen stellen würde“, sagte die F. Sie verlieh ihrer Angst Ausdruck, daß er „asozial“ wird, so sagte ausgerechnet die F. Manchmal fürchtet sie sich regelrecht vor ihm. Einmal ist er auf sie mit einer Schere losgegangen. Unter dem Strich aber sei er ein guter Junge, der keine leichte Zeit durchmacht, so wie sie. Die KJS und die EOS mußte er sich „abschminken“, sein Leben „in der TäTäRä“ ist gelaufen. Über ihre Tochter, die D E V R I E N T, Leonore machte die F. kaum Angaben. Offenbar lebt sie beim Kindsvater in der Hauptstadt. Nach und nach breitete sich ein Schweigen aus, das auch der Alkohol nicht zu beheben vermochte. Allmählich wurde man müde, und so endete die Zusammenkunft. Ich verließ das Haus gegen 3   Uhr   15 und fuhr mit dem Fahrrad nach Hause, wo ich erst gegen 4   Uhr   30 anlangte. Am darauffolgenden Tag bzw. am selben Morgen mußte ich daher von der Arbeit fernbleiben.
     
    gez. S E E L E
     
    F.d.R.d.A.:
     
    Bei konspirativem Treffen äußerte IM große Enttäuschung, daß ihre Tochter nicht auf Erweiterte Oberschule delegiert wurde. Führungsoffizier sicherte schnelle Prüfung zu.
     
    Dobysch
    (Hauptmann)
     
    IM Doktor Instruktionen zum Umgang mit der Schwangerschaft der F. erteilen!
     
    Altwasser
    (Major)

26. Brandenburgische Konzerte
    Am Ende des Gleises sitzt der letzte Reisende auf einem Koffer, er. Hinter ihm liegt nichts, kein Schatten. Ein moosgrüner Reichsbahnzug hat ihn hierhergebracht. Der Wechselwind des Westens half ihm, die Ausdünstungen des Ostens aus der Nase zu bekommen, jenes Amalgam aus PVC -, Plast- und Leimgerüchen, diese Migräneschwaden, wie sie von falschen Furnieren und schlechten Legierungen abgesondert werden. Den möhrenfarbenen Schimmer der Prunkfenster haben die Tränen längst von seiner Iris gewaschen, so wie es die eiskalten Schauer der Knastdusche mit dem Dederon- und Selastikknistern auf seiner Haut taten. Er ist also frisch, und um ihn ist alles neu. Nur ein leises Tinnituspfeifen hat er noch im Ohr und ein geringfügiges Jucken im Nacken. Eine nie gesehene Sonne weißt die Steine, bleicht das Grün des Zuges, und die Schienen blitzen wie Messer, die gewiss niemals stumpf werden. Er ist der letzte und der erste Reisende. Sein Koffer ist aus Papier, er riecht das Teeröl, mit dem die Bahnschwellen getränkt sind, satt und saftig riecht es, er kann wieder riechen. Hinten in einem Gleisbett, aus dem Schafgarbe und Disteln sprießen, stehen schwere Kohlewaggons. Petrol, Erdgas, Benzin und Steinkohle, das sind die Brennstoffe einer echten Industrienation. Die Grillen singen, horch, und über dem Bahnsteig flirrt die Luft. Er wird jemand werden in diesem Land. Sein Diplom wird ihm nachreisen, und wenn es hier nichts gilt, macht er eben ein neues. Er kann mehr als löten, er kann anpacken, er kann es packen. Keine Wolke klebt am Himmel, die Bahnsteiglampen werden länger, der Fluss führt dem Meer Kähne und Chemie zu, und ein von den Hängen fallender Hauch kühlt seine Stirn. Im Auffanglager schlief er traumlos in einem Bett aus

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