Das halbe Haus: Roman (German Edition)
bringt drei Briefcontainer mit Posthorn auf den Parkplatz. Warum ist mein ganzes Leben nur so gut verlaufen, denkt sie, so ohne Sorgen? Das ist doch ungerecht. Ende 1947 zog sie weg aus dem nun geteilten Städtchen, dorthin, wo sie niemand kannte und anguckte, von der Neiße an die Pleiße. Zur Sicherheit heiratete sie und gab den geborgten Namen weg. Sie lebte hier und jetzt, hatte ein schönes Haus und einen schönen Garten. Die anderen Söhne und ihre Familien kamen zu Besuch. Kaffee und Kuchen auf dem Rondell unterm Birnbaum, Kartoffeln und Quark auf dem Küchentisch. Am Türstock zeichnete sie an, wie es mit ihrem Enkel aufwärts ging. Es gab den Dienst, die Jahreszeiten, die Gräber und immer zu essen und zu trinken. Der Frühling verging, der Sommer war nicht heiß. Es gab federleichte Tage, da lastete nichts auf ihr, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Alles war in Ordnung. Bis ihr Sohn unruhig wurde und zu strampeln anfing, als sei er ein Kleinkind, dieser dumme, dumme Bengel! Stark muss man doch sein. Alles geht doch vorbei, ein Regen ist nur ein Regen. Tauwasser ist Tauwassser, ein Fluss ist ein Fluss, der zu den Wolken geht, und die Wolken gehen zum Abendlicht, und das Abendlicht geht zur Nacht. Finster ist die Nacht, und sehn kann ich eich nicht. Wo seid ihr olle? Wo, um Himmels willen? Tati, Mame, Betty, Anni, Arthur? Und wo bist du, main Lieb? Wieso habt ihr olle kain bissel Herz? Sagt an! Hobt Gnade und sprecht mit mir! Denn wie bin ich gerannt, als ich das Gewicht von dere Hand suchen ging, die so leicht worden war. Wo denn finde ich eich? Gesucht hob ich eich überall, muss ich denn dere Leiter nehmen und im Himmel nach eich suchen? Die Russen, ausgelöscht sei ihr Name, die Deitschen, ausgelöscht sei ihr Name, Staub sind se, Staub sind wir, nichts als Staub. Du bist nichts, und du deswohlgleichen auch nicht! Eire Herzen werden vor eich sterben, diese trägen Sticke Fleisch in eirer Brust. Die Angst wird eich auffressen, oh, ihr spürt se kaum. Und ollein werdet ihr sein. Mutterseelenollein, vaterseelenollein.
Allein steht sie auf einem Bahnsteig. Unkraut sprießt aus den Ritzen, und ein Dornenstrauch wächst aus einem Waschbetonkübel. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen. Haben sie ihn jetzt doch wieder gekascht? Weggebracht, verhaftet, verbannt? Ein langer grüner Zug parkt am Gleis. Ein Bahner kontrolliert die Räder. Ganz hinten, am Ende des Gleises, ist noch jemand. Ein Mann. Der hockt auf einem Koffer. Sie läuft los, und der Mann steht auf. Wie sie ihn begrüßen wird? Na so, wie es sich gehört. Der Kopf mag vergessen haben, was sich gehört, der Körper hat es nicht vergessen. Denn das ist er doch: bartlos, kurzes Haar, in Zivil. Aber ja! Bissel schmal ist er geworden, doch die Haltung und die Augen: wie eh. Sie eilt auf ihn zu, ihr ist rot. Die Freude des Eilens, die Freude des Atmens, die Freude des Windes und des Innehaltens. Endlich. Sie senkt den Kopf und schämt sich für das viele Glück, das ihr widerfährt. Die Welt ist so ungerecht, warum nur hat sie solch ein unverschämtes Glück? Dann hebt sie den Kopf, breitet die Arme aus und sagt: »Wolodenjka, milyj, nakonjezto!«
25. Gute Seele
Bericht zur Person F R I E D R I C H, Eva
Am Sonntag, dem 3. Juni 1984, betrat ich gegen 20 Uhr 45 das Wohnhaus der FRIEDRICH, Eva. Der Anlaß war die Bitte der FRIEDRICH um ein Gespräch. Ich traf die FRIEDRICH in stark aufgelöstem Zustand an. Obwohl im ganzen Haus nur Kerzen brannten (auch bereits auf der Haustreppe standen Lichter in Pergamentpapier), war der verwahrloste Zustand der Wohnräume nicht zu übersehen. Kleidung lag lose herum, die Kücheneinrichtung war voller Spritzer (die F. beschäftigt sich seit einiger Zeit mit dem Töpfern), dreckiges Geschirr und volle selbstgefertigte Aschenbecher standen herum. Im Wohnzimmer befand sich ein Wäschekorb mit Leergut, das der Adoptivsohn der F., der F R I E D R I C H, Jakob angeblich längst zur Annahmestelle bringen wollte. Die FRIEDRICH selbst wirkte fahrig und machte den Eindruck, als würde sie auch ihre eigene Person vernachlässigen. Sie hat an Leibesumfang gehörig zugelegt, was nicht allein auf eine gesteigerte Nahrungszufuhr zurückzuführen ist, wie die FRIEDRICH später auch einräumte. Unter Tränen sagte sie zu vorgerückter Stunde, daß sie „ein Kind unter dem Herzen“ trage. Wie sie gestand, ist sie durch Verkehr mit „einem Bekannten“ schwanger geworden. Den Namen dieses Mannes wollte die F. nicht
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