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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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gegründeten Republikaner und sogar die SPD werden an Ständen für ihre Sache werben und Flaschenöffner, Wahlprogramme und Grillzangen verteilen: CSU , damit nichts anbrennt. Die Quellkönigin wird gekürt werden, Blasmusik wird spielen, es wird ein Reitturnier und eine große Tombola geben. Segelflugzeuge werden bunte Bänder hinter sich herziehen, und der Tennisverein wird sein alljährliches Jedermannsturnier veranstalten. Frank hat doch mal gespielt, vielleicht weiß er noch, wie es geht, fifteen-luv. Er wird Augen machen. Wie im Schlaraffenland wird es sein für ihn, der all das ja noch nie erlebt hat. Ganz am Schluss wird es ein großes Feuerwerk geben. Sie wird sich für ihn freuen, und wie.
    Zu der Trine allerdings wird sie nicht mehr gehen. Dafür hat sie jetzt absolut keine Zeit mehr. Überhaupt hat sie sich immer sehr unwohl gefühlt, wenn sie zu Frau Doktor musste. Wenigstens der Titel ist echt. Gegangen ist sie freilich nur, weil der Professor es ihr geraten hat. Da saß sie dann jede Woche auf der Kante eines Diwans und tauschte Blicke mit fetten Buddhas. Andauernd musste sie Frau Doktors Fragen beantworten. »Wer ist Liesl?«, »In welchem Verhältnis standen Sie zu Ihrer jüngsten Schwester, Anneliese war wohl der Name?«, »Woran ist Ihr ältester Sohn erkrankt?«, »Wie werden Sie Ihren mittleren Sohn begrüßen?«, »Waren Ihr Mann und sein Bruder eineiige Zwillinge?« Bei ihrer letzten Sitzung hatte die Trine eine große weiße Tafel vor dem Diwan aufgestellt. »Heute möchte ich gern mit Ihnen einen Stammbaum Ihrer Familie erstellen. Vieles ist mir da noch unklar geblieben«, sagte sie und wippte auf und ab. Für die Männer hielt sie einen blauen Edding in der Hand, für die Frauen einen roten. »Fangen wir mit Ihren Großeltern an«, sagte sie. Ja, fangen wir getrost mit dem Schicksal an. »Wissen Sie, Frau Doktor, ich war damals noch sehr klein. Ich weiß nur noch, dass Albert auf dem Lehmofen schlief. Ich weiß nicht mal, ob ich das selbst gesehen hab oder ob Katja es mir erzählt hat.« – »Katja war Ihre Mutter.« – »O ja, Katharina Siegenthaler. Ohne Sattel ritt sie ihren Orlower, beim Rechnen brauchte sie keinen Abakus, nie war ihr Zopf lose.« – Mit Rot schrieb Frau Doktor »Katharina Siegenthaler« oben links auf die Tafel. »Mit welchen drei Adjektiven würden Sie Ihre Mutter charakterisieren? Welche drei Eigenschaften fallen Ihnen spontan ein?« – »Sie war die Mutter von uns allen.« – »Ich meine, welche Empfindungen hatten Sie für Ihre Mutter und haben Sie heute?« – »Aber sie ist doch längst tot.« – »Können Sie es bitte versuchen?« – »Alle sind längst tot.« – »Wie ist es mit Ihrem Vater? Wie war sein Name?« – »Tati.« – »Das ist ein Kosename. Wie hieß er im richtigen Leben?« – »Ich glaube, er hieß Arthur. Glaube ich.« – »Wie lang liegt die Beerdigung Ihres Sohnes zurück?« – »Na, hören Sie mal, wie reden Sie denn mit mir! Alle meine Söhne leben. Dreier Stück an der Zahl: Rudolf, Siegmar und Frank. So heißen die.« – »Aber sagten Sie nicht, dass einer …« – »Ach, nun hören Sie schon auf. Der Rudolf schläft doch nur am Tage, weil er Nachtschicht hat.« Es klopfte, und ein Mann mit schmalem Gesicht und vollem Grauhaar steckte den Kopf durch die Tür. Die Therapeutin entschuldigte sich und verließ den Raum mit den Buddhas, den Lampions und Büchern und Masken an den semmelgelben Wänden. Auch sie stand auf und legte ihr Ohr an die Tür. »Der greise Mensch kann nicht mehr zum Kind werden, er wird kindisch«, hörte sie Frau Doktor sagen. Dann vernahm sie Schritte, und als es lange still blieb, stahl sie sich davon. Vor ihr lief ein Kokosläufer die Treppe hinunter. Darauf würde sie nie wieder einen Fuß setzen.
    Noch vor Gemünden schließt Hermann das Schiebedach, und ein Geräusch nimmt Gestalt an. Ein Raunen, das zuerst noch zart und unwirklich ist, aber plötzlich dick wird, bis es als Rauschen im Auto ist, für einen Moment tatsächlich den Innenraum ausfüllt, um dann auf die Lederpolster zu fallen. Ach, das Zugfahren, immer das Zugfahren. Paul war Lokführer. Vor ihm setzte sie das zweite Gesicht auf. Eine Stunde früher stand sie auf und machte sich zurecht. Sie brauchte diese Stunde, um die Falter einzufangen. Dann war sie frisch, nie sah er sie in Auflösung.
    Hermann parkt direkt am Bahnhof. Wenige Autos stehen da, ein rotes und ein gelber Laster von der Post. Eine kleine Zugmaschine

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