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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Pappmachéköpfe schwebten an Hausfassaden mit blinden Fenstern vorbei. Bonbonregen prasselte auf Perückenonkel und tanzende Mädels. Auf einem Wagen wurden ein Prinz und eine Prinzessin herumgefahren wie Margot und Erich. Warum, zum Teufel, wollte sein Vater dahin? Dieser Karnevalsumzug war doch nicht weniger grauenvoll als die Umzüge am Ersten Mai. Anders grauenvoll zwar, aber eben auch grauenvoll. Und diese Stadt Mainz wirkte so traurig wie Halle bei Regen, und das lag nicht daran, dass sie nur einen Schwarzweißfernseher hatten. Was, wenn der Westen ein Irrtum war? Eine Panne? Was, wenn Falk und der Obermufti und Onkel Siegmar recht hatten?
    »Jetzt muss ich dich mal was fragen«, sagte Jakob, während sie an dem großen Friedhof vorbeiliefen, auf dem mehr Tote lagen, als die Stadt Einwohner hatte. Auch seine Mutter, von Tannengrün bedeckt.
    »Frag«, sagte Falk.
    »Na ja«, sagte Jakob.
    Falk kickte einen Blindgänger vom Fußweg auf die ewig lange Straße, auf der sich kein einziges Auto zeigte. »Was ist denn jetzt?«, sagte er.
    »Witzfrage«, sagte Jakob schließlich. Er holte Luft. »Welcher Bär springt am höchsten?«
    Ein Auge zukneifend, sah Falk ihn mit dem anderen an.
    »Sag schon«, drängte Jakob. Plötzlich war er übermütig. Er tänzelte um Falk herum, die Gegenstände in seinem Rucksack schepperten.
    Falk überlegte. Schließlich sagte er: »Der Waschbär?«, und klang wenig überzeugt.
    »Falsch!«, frohlockte Jakob. »Rat weiter!«
    »Braunbär?«
    »Falsch!«
    »Eisbär.«
    »Falsch!«
    »Bummi?«
    »Leider falsch!«
    Trotz der Kälte roch er den Harzhauch der Friedhofshölzer: Thujas, Koniferen, Liguster.
    »Grizzly?«, sagte Falk lustlos.
    »Falsch und aberfalsch.«
    »Warm oder kalt?«, fragte Falk entnervt.
    »Keine Ahnung«, prustete Jakob los. Falk blieb stehen und sah ihn an. Er sah ihn auf so verdatterte Weise an, dass Jakob sich nicht mehr beherrschen konnte. Das Lachen platzte aus ihm heraus. Er hielt sich den Bauch, und die Tränen schossen ihm in die Augen. Das Lachen schüttelte ihn. So sehr wie in letzter Zeit hatte er noch nie gelacht.
    Bekümmert sagte Falk: »Ich werd nicht schlau aus dir. Lass uns mal zur Bimmel gehen.«
    Erst als sie am Klinikum die Zwanzig nahmen, hörte Jakob auf zu lachen. Genau genommen hörte er erst auf zu lachen, nachdem die Mongos zugestiegen waren.
    Sich paarweise an den Händen haltend, betraten sie den Wagen. Als Herde standen sie im Gang, bis sie nach und nach von ihrer jungen Betreuerin in die Sitze gedrückt wurden. Ihre Gesichter waren ohne Alter und Geschlecht. Alle trugen Mützen aus Strick oder Fell, und alle Mützen saßen schief. Als der Bahnhof auftauchte, gab einer mit abstehenden Fellohren Laute von sich, wie sie Jakob nur von den Robben aus dem Zoo kannte. Auch die anderen begannen sich zu regen. Sie stießen sich an und machten einander Zeichen. Da war er: der Hauptbahnhof.
    Es war der größte Kopfbahnhof Europas. Statt Kopfbahnhof konnte man auch Sackbahnhof sagen, was gleich viel lustiger klang. Hier fuhren die Züge nicht durch, sie fuhren ein und warteten, bis eine Lok vor das Zugende gespannt war, das auf einmal die Zugspitze darstellte. Reisende, die in Fahrtrichtung eingetroffen waren, verließen den Bahnhof rückwärts. Manch einer merkte es erst in Erfurt, weil ihm schlecht geworden war. In diesem Bahnhof endete etwas, und hier fing etwas an.
    Während sich die Mongos zwischen den Straßenbahntrassen sammelten, überquerten Jakob und Falk die Straße. Jakob wollte schon die Pendeltür des Westeingangs aufstoßen, doch Falk blieb einfach stehen. Er werde nicht mit hineinkommen, sagte er. Er müsse jetzt los. Es sei schon spät, er gehe jetzt besser.
    »Klar«, sagte Jakob.
    Falk betrachtete seine Schuhspitzen. »Einwas noch«, sagte er.
    Jetzt gibt er mir seinen Hirschfänger, dachte Jakob. Damit ich mich wehren kann im Westen, am Bahnhof, gegen die Rauschgifttypen. Und vielleicht zur Erinnerung an den Tag vor den großen Ferien, als wir Blutsbrüder wurden. Sie hatten in der Trauerweide gehockt, kokelnde Rohrbomben im Mund, und sich mit dem Hirschfänger die Daumen aufgeritzt. Haut auf Haut, hatte der eine bis fünfzig gezählt, bevor der andere bis fünfzig zählte, dann war die Sache besiegelt.
    Doch Falk gab ihm nicht den Hirschfänger. Er sagte einfach nur: »Schreib mal, wie’s so ist.«
    Jakob nickte. »Sowieso.«
    Als der Freund den Blick hob, konnte Jakob keine einzige Sommersprosse in dessen Gesicht finden.

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