Das halbe Haus: Roman (German Edition)
hatte der Kuss-Junge erbost gerufen und war mit einem »Pustekuchen« weggelaufen. Dennoch galt Falk seitdem als Experte in Fragen, die das Ficken betrafen. Jakob selbst hatte den Kuss-Jungen unterstützt und war noch immer der Ansicht, dass Knutschen kreuzgefährlich sei, mit und ohne Zunge.
Sie stiegen vom Berg. Dornenzweige griffen nach ihnen, Kletten klammerten sich an ihre Hosen. Sie sprangen über einen zugefrorenen Graben, dahinter lag eine neblige Brache. Nach einem schweigsamen Fußmarsch kam das Neubaugebiet, ohne Übergang. Die Brache reichte bis an das erste Haus, erst dahinter fingen die Straßen an. Rotes Böllerpapier lag fetzenweise im Rinnstein, und schmauchende Kometen zogen über die Bürgersteige.
Die Rampe, die zur Kaufhalle führte, war von Dutzenden Lottoscheinen übersät, 5 aus 35. Jemand hatte das verfallene Glück eines ganzen Jahres fortgeworfen. Vergebliche Fernsehminuten, jeden Sonntag: Die Kugel rollt den Berg im Kreis hinab und reißt den falschen Zahlenkegel um. Ein musikalischer Trost tut not, je nach Geschlecht, je nach Gemüt: Schlager, Operette, Marschmusik, Große Stimmen.
Der Sand des Spielplatzes war gefroren. An einer Stelle waren drei Raketenhölzer vom Himmel gefallen und lagen wie Mikadostäbe übereinander. Falk und Jakob erklommen das Klettergerüst, dessen Gestänge klirrte.
»Da ist noch was«, sagte Falk und setzte sich auf eine der höchsten und äußersten Kanten.
Jakob hockte sich auf die gegenüberliegende Kante, ganz Ohr.
»Vor einwas musst du dich echt in Acht nehmen.«
»Wovor denn?«
»Äitsch«, sagte Falk.
»Versteh ich nicht.«
»Äitsch ist englisch für den Buchstaben H. Und H steht für Rauschgift.«
»Versteh ich immer noch nicht.«
»Na ja, wenn du da am Bahnhof ankommst, gammeln so Typen rum, die spritzen sich Rauschgift in die Arme. Manche sind so zerstochen, die müssen es sich in den Bauch oder in die Beine spritzen. Manche sogar in den Schwengel, ohne Scheiß.«
»Echt jetzt?«
»Sowieso. Und du musst höllisch aufpassen, dass sie dich nicht auf ein Klo schleppen und auch dir Rauschgift spritzen.«
»Warum sollten sie mir denn Rauschgift spritzen?«
»Um dich süchtig zu machen. Wenn du süchtig bist, dann können sie dir Rauschgift verkaufen. Du kannst dann nicht anders und brauchst immer neues Rauschgift. Du musst dir jeden Tag einen Druck machen, so heißt das. Das ist aber voll teuer. Damit du Geld kriegst, musst du fiese Sachen tun.«
»Was denn für fiese Sachen?«
»Rat mal.«
»Altstoffe sammeln?«
»Nee!«
»Wandzeitung?«
»Nehee!«
Sie lachten. Falk breitete die Arme aus und pendelte leicht mit seinem Oberkörper vor und zurück. Jakob tat es ihm nach. Er musste achtgeben, dass ihn sein Rucksack nicht nach hinten zog. Sie sahen aus wie besoffene Vögel, die vergeblich versuchten, sich in die Lüfte zu schwingen.
»Jetzt sag mal«, drängte Jakob.
»Na ja«, sagte Falk, »echt fiese Sachen eben.«
»Sag, Kunde!«
Falk zuckte die Schultern. »Anschaffen.«
»Was soll denn das sein?«
Falk nahm die Arme herunter und suchte Halt.
»Was ist das, anschaffen?«
»Na ja, du stellst dich an den Bahnhof und wartest, bis ein Freier kommt. Ein Freier ist jemand, der dich für Geld ficken will.«
»Am Bahnhof?«
»Am Bahnhof, im Auto, in der Wohnung, auf’m Klo, ist dem doch egal. Der will, und du musst. Weil du rauschgiftsüchtig bist. Viele Kinder in der BRD sind rauschgiftsüchtig und müssen anschaffen. Ich hab’s selber gesehen.«
»So ein Quatsch! Du warst noch nie drüben!«
»In einem Buch hab ich’s gesehen. Da steht alles drin, auch mit Fotos. So ein Mädchen hat’s geschrieben oder auf Tonband erzählt, der ist das alles passiert. Echt jetzt.«
»Du spinnst«, sagte Jakob und sprang vom Gerüst. Er sprang von ganz oben und stauchte sich die Knie. Auch Falk sprang.
Was, wenn Falk recht hatte? Was, wenn der Westen elend war? Einmal im vergangenen Februar war Jakob krank gewesen, er durfte zu Hause bleiben und hatte ferngesehen, während Vater und Großmutter arbeiten waren. Er hatte Wim Thoelke und den knutschenden Elefanten und den knutschenden Hund gesehen, in dieser Ratesendung, wo sich eine Glaskuppel über die Kandidaten senkt, wenn es brenzlig wird. Im Anschluss hatte es eine Übertragung des Rosenmontagszugs in Mainz gegeben. Von Mainz wusste er nur, dass es ziemlich im Westen lag und dass Gutenberg, der mit dem Buchdruck, von dort stammte. Durch graue Gassen zogen helaurufende Kasper. Riesige
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